Politologe Herfried Münkler im Falter-Interview


Politologe Herfried Münkler im Falter-Interview
 

„Sebastian Kurz hat eine Chamäleonstruktur“
Politologe Herfried Münkler über Talente und Schwächen des zukünftigen österreichischen Bundeskanzlers.

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Viele seiner Bücher gelten mittlerweile als Standardwerke, etwa 'Die neuen Kriege' (2002), 'Imperien' (2005), 'Die Deutschen und ihre Mythen' (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie 'Der Große Krieg' (2013) und 'Die neuen Deutschen' (2016), die beide monatelang auf der 'Spiegel'-Bestsellerliste standen.

Berlin-Mitte, Institut für Soziologie, ein Zimmer voller Bücherregale mit Fenster zum Innenhof. Hier lehrt der deutsche Politologe Herfried Münkler, streitbarer Intellektueller, gefeierter Buchautor und außenpolitischer Berater der deutschen Regierung. Der Falter bat ihn zu einem Gespräch über den voraussichtlichen neuen Bundeskanzler Sebastian Kurz, Österreichs Rolle in Europa und die Zukunft der Union.

Falter: Herr Professor Münkler, in Deutschland wird Österreich nach den Wahlen als Land mit radikalem Ruck nach rechts gesehen. Die FPÖ gilt als rechtsextreme Partei. In Österreich sieht man das nicht ganz so aufgeregt. Was ist da Ihrer Meinung nach am 15. Oktober 2017 passiert in Österreich?
Herfried Münkler: Ich neige natürlich zu einer gewissen Gelassenheit, weil die Republik Österreich seit bald einem Jahrhundert nicht mehr das Gewicht hat, das einstmals das Habsburgerreich hatte. Die Österreicher müssen selbst wissen, ob sie sich den Visegrád-Staaten annähern wollen und deren fünftes Mitglied sein wollen oder nicht. Man wird sehen, ob Heinz-Christian Strache jetzt wirklich Kreide geschluckt hat oder ob es nur eine Verstellung war. Aber der eigentliche Akteur ist ja die ÖVP, und ich glaube, dass Sebastian Kurz intelligent genug ist zu wissen, dass eine Politik, die anti­europäische Züge hat, letzten Endes auch das Gewicht Österreichs innerhalb der EU deutlich vermindern wird.

Was ist Herr Kurz für Sie, ein Neofeschist, ein Neokonservativer, ein Rechtspopulist?
Münkler: Er ist vor allen Dingen ein mit Blick auf die Medien sehr geschickt agierender Typ, bei dem man nicht unbedingt sagen kann, was er wirklich ist. Er hat eine gewisse Chamäleonstruktur. Er hat seine Aufgabe nicht darin gesehen, die österreichische Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu bewegen, sondern er hat sich deren Grundstimmungen perfekt angepasst. Das hat er in technischer Hinsicht geschickt gemacht, das muss man einfach aner­kennen. Es bleibt auch die Frage, ob, wenn er das nicht gemacht hätte, möglicherweise die FPÖ noch sehr viel stärker in das Parlament eingezogen wäre. Insofern würde ich mich jetzt gar nicht festlegen wollen, ob es eine Form der Zurückdrängung von Rechtspopulismus durch aggressiven Rechtskonservatismus war oder aber eine Übernahme von Rechtspopulismus ins eigene Programm. Wahrscheinlich ist die Zuspitzung auf einen Begriff sowieso unangemessen, weil es um Fall-zu-Fall-Entscheidungen geht. Kurz’ wahre Haltung wird sich in der konkreten Politik zeigen, die er dann treibt.

Wo wäre denn ein Sebastian Kurz in Deutschland? Wo würden Sie den verorten?
Münkler: Bei der CSU. Irgendwo in der CSU. Da gibt es ja auch eine Reihe von smarten und feschen Typen, die da hochschießen, aber dann doch nicht können, weil sie an Horst Seehofer, dem Chef der CSU, nicht vorbeikommen. Mal sehen, wie Söders aktueller Putsch ausgeht. In Österreich gab’s keinen Seehofer. Kurz kann also ohne das Stigma des Königsmörders regieren.

Smart, fesch und metrosexuell wie Emmanuel Macron und Justin Trudeau?
Münkler: Mir erscheint er in seinem Erscheinungsbild Mao ähnlich. Mao hatte zwar ein sehr viel dickeres und breiteres Gesicht, aber die glänzende Haut und die entsprechend gekämmten Haare erinnern mich an ihn.

Was sagt das denn über uns aus, dass gerade so ein Politikertypus jetzt so viel Zuspruch bekommt?
Münkler: Zunächst einmal sagt es etwas über die Krise des Parteiensystems aus, dessen man überdrüssig ist und das man für die Stagnation verantwortlich macht. In Frankreich ist weder bei Regierungen rechts noch bei solchen links der Mitte etwas vorangegangen, in Österreich waren es die unendlich vielen und langen GroKos, die den Stillstand verwaltet haben. Dieser Politikertypus, Macron oder Kurz, kommt also scheinbar aus dem Nichts, gründet eine Bewegung, wirkt jung, dynamisch und frisch, ein einziges Versprechen für die Zukunft, und schiebt alles andere in den Hintergrund. Das Problem dabei ist: Charismatiker verbrauchen sich schnell. Wenn sie, mit Bertolt Brecht formuliert, die Mühen der Ebene zu bewältigen haben, dann ist relativ schnell der Lack ab. Dann muss man sehen, wie sie reagieren. Entweder mit rhetorischer Hypertrophie, also mit permanentem Krawall und Feindbildern, das ist die unangenehme Lösung. Oder sie lassen sich auf den Verbrauch des Charismas ein, werden durch die Institutionen konsumiert und werden am Ende so, wie sie heißen, nämlich ziemlich kurz. Das ist die demokratiefreundliche Lösung.

Sie schätzen die Halbwertszeit des Phänomens Kurz als eher kurz ein?
Münkler: Ja, jedenfalls des Phänomens Kurz jetzt, des Charismatikers. Er hat ja die Fähigkeit, sich zu verwandeln, also kann man ihm durchaus zutrauen, dass er sich innerhalb des Institutionengefüges auch auf Dauer als geschickter Manager von Mehrheiten etabliert – und dann ist es halt Sebastian Kurz III, der erscheint. Er ist ja jung genug, um einen solchen Imagewechsel hinzubekommen.

Kurz besteht sehr darauf, dass die Parteifarbe nicht mehr Schwarz, sondern Türkis ist. Wofür steht Türkis in der politischen Farben- oder Ideengeschichte?
Münkler: Türkis ist eine im politischen Spektrum unverbrauchte Farbe. Es ist auch nicht interessant, dass es ausgerechnet Türkis ist. Es hätte auch eine andere politisch unverbrauchte Farbe sein können. Nun sind die meisten Farben besetzt – von Rot bis Grün, von Schwarz bis Gelb. Aber dass die Farbe eine so große Rolle spielt, das ist interessant. Es zeigt nämlich, dass auch in der politischen Kultur stattgefunden hat, was man den „iconic turn“ nennt: dass das Anschauen von Bildern, die Prägung von Bildern durch Farbe eine Bedeutung hat, hinter der der Text, sprich das Parteiprogramm, verschwindet. Die neue Farbe ist sehr viel wichtiger als ein neues Parteiprogramm. Das ist eine im Hinblick auf eine gepflegte politische Kultur bedauerliche Entwicklung, entspricht aber unserer Neigung, auf sensuelle Attraktionen einzugehen. Als Protestant könnte ich auch sagen, das ist ein neuer Triumph des Katholischen, denn Katholiken sind ja in ganz anderer Weise auf Bilder ausgerichtet als der Protestantismus, der mit Texten groß geworden ist.

FPÖ in Österreich, AfD in Deutschland. In Deutschland gibt es eine größere Immunität gegen den Rechtspopulismus, sagten Sie einmal. Was können wir von den Deutschen lernen?
Münkler: Schauen wir uns die 12,6 Prozent, die die AfD bekommen hat, genauer an: Es sind die neuen Bundesländer plus Bayern und Baden-Württemberg, die hohe Ergebnisse für die AfD gebracht haben. Wohingegen Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen sehr überschaubare Ergebnisse für die AfD hatten. Innerhalb von Deutschland gibt es also unterschiedliche Dispositionen, die vermutlich etwas mit der emotionalen Aufladung von Heimat zu tun haben. Wenn wir Bayern und Baden-Württemberg weglassen und uns nur auf Sachsen bis Meck-Pomm konzentrieren, sehen wir: Die haben eine ähnliche Verarbeitung des Nationalsozialismus wie die Österreicher.

Nämlich eine verspätete.
Münkler: Was beide verbindet: Der National­sozialismus kam angeblich von außen und hatte mit ihnen nichts zu tun. Die einen, die Österreicher, waren Hitlers erstes Opfer, und die anderen, die Ostdeutschen, waren der Sieger der Geschichte. Die alte Bundesrepublik, also die Bonner Republik, hat mit einer gewissen Verspätung, aber spätestens seit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt und dann intensiviert durch die 1968er-Bewegung eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus betrieben. Das ist der Kern dessen, was ich die Immunisierung oder die Imprägnierung gegen Rechtspopulismus genannt habe. Man kennt die Folgen, weil man sich mit den Folgen beschäftigt hat. Man weiß auch, dass der Nationalsozialismus keineswegs von Anfang an nur rabiat daherkam, sondern auch seine smarten Typen aufzuweisen hatte. Baldur von Schirach etwa.

Diese historische Aufarbeitung lässt sich nicht nachholen?
Münkler: Vielleicht hätte man 1990 sagen müssen: Wenn die neuen Bundesländer dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten wollen, dann muss zuvor sehr viel in politische Bildung und in so etwas wie ­Reeducation investiert werden. Die Sowjets hatten nach 1945 geglaubt, dass sie, wenn sie den Großgrundbesitz und die Groß­industrie erledigen, auch den Faschismus los sind, weil der Faschismus, so die ­Doktrin, eine Folge des Kapitalismus sei. Die Amerikaner konnten natürlich nicht sagen, der Kapitalismus führe zum Fa­schismus. Sie haben eine mentale und kulturelle Disposition zum Obrigkeitsstaat für den Faschismus verantwortlich gemacht und auf Reeducation gesetzt. Auch semantisch ist interessant, dass in der DDR das Ganze Faschismus oder Hitler-Faschismus hieß, in Westdeutschland war es der Nationalsozialismus. Mit zeitlichem Abstand kann man sagen, dass diese Auseinandersetzung schon gewirkt hat. Aber ich bezweifle, dass sich derlei heute nachholen lässt.

Kann Deutschland aus dem Umgang Österreichs mit der FPÖ etwas lernen?
Münkler: Ihr habt es mit allem versucht, mit Ausgrenzen und Eingliedern. In der Hinsicht kann man fast sagen, der Einbezug in der Schüssel-Zeit hat die FPÖ stärker negativ betroffen als die Strategien der Ausgrenzung.

Aber sie hat sich danach relativ schnell wieder erholt.
Münkler: Natürlich. Das sind Parteien, die sich gern im Gestus des Opfers darstellen; sie möchten heroisch dastehen, sind aber dann doch notorische Jammerer, was letzten Endes ihre Gefährlichkeit in Grenzen hält. Indem man sie ausgrenzt, macht man sie zu Opfern. Und da es in unseren Gesellschaften nun einmal eine Neigung zum Viktimen gibt, haben sie dadurch Vorteile. Sie skandalisieren bei Ausgrenzung die bestehende Ordnung. Insofern kann man von Österreich schon etwas lernen. Andererseits ist in Deutschland vorerst überhaupt nicht vorstellbar, dass die CDU eine Koalition mit der AfD bildet. Das hat sicherlich auch etwas mit der Verarbeitung der Geschichte zu tun, die bei uns anders als in Österreich war. Außerdem: Wenn Deutschland auf einen gegenüber Europa distanzierten Kurs geht, dann hat das einen Effekt, der einer Explosion Europas gleichkommt. Bei Österreich lässt sich das verkraften, es vermehrt die Probleme der EU, aber es bringt sie nicht zum Einsturz.

Sie sprechen gerne von zwei Linien, entlang derer Europa zerbrechen könnte. Das eine ist die Nord-Süd-Linie, da geht es um Schulden und ökonomische Aspekte. Das andere ist die Ost-West-Linie, Stichwort Migration und Sicherheit. Nähert sich Österreich wieder dem Osten an?
Münkler: Geopolitisch wäre das nicht neu: Auch die Geschichte der österreichischen Monarchie im 19. Jahrhundert ist die einer Ostverschiebung. Aber politisch wäre das heute ein Akt der Dummheit, denn im Konzert der Visegrád-Staaten würde Wien keine relevante Stimme sein. Da hört man eher auf Polen. Wien wäre marginal.

Sie halten das Image Österreichs als Vermittler oder Drehscheibe zwischen Ost und West für Folklore?
Münkler: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Brüssel Wien in diese Rolle bringen würde. Eine solche Vermittlerrolle würde ja wohl darauf hinauslaufen, in Halbdistanz zu allen zu bleiben, sowohl gegenüber den Visegrád-Staaten als auch gegenüber der Haupt-EU, um sich ins Spiel zu bringen. Aber die Brüsseler werden schon begriffen haben, dass das eine Prämie auf Absetzung ist, und sie werden diese Prämie nicht auszahlen. Vergessen wir nicht: Die EU ist vor allem eine Alimentierungsgemeinschaft. Die Frage der Transfers kann man ohne Vermittler verhandeln.

Im Herbst 2015 haben Sie Österreich noch als Kandidaten für ein progressives, reformorientiertes „Kerneuropa“ gesehen – neben Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten.
Münkler: Das hat sich verändert. Das ist nach meiner Wahrnehmung keine weitreichende geopolitische Entscheidung, sondern ein politischer Positionierungskampf, der in der österreichischen Gesellschaft selbst ausgetragen wird. Wo gehören wir hin? Zum liberalen, weltoffenen Europa des Westens? Oder zu der national-protektionistisch abgeschotteten Welt der Visegrád-Staaten? Wie er ausgeht, ist noch offen. Österreich wäre in der Visegrád-Gruppe der einzige Nettozahler in einem Klub von Nettoempfängern. Viel Spaß dabei!

Sebastian Kurz hat sich im Wahlkampf laufend damit gerühmt, dass er es gewesen sei, der die Westbalkanroute geschlossen und damit Österreich gerettet und Deutschland mitgerettet habe. Was war wirklich sein Anteil, und wie bewerten Sie das Zusammenspiel mit dem Türkei-Deal von Angela Merkel?
Münkler: Die Schließbarkeit der Balkanroute ist zunächst und vor allem das Ergebnis des Türkei-Deals. Wären über die Ägäis weiterhin so viele Menschen gekommen wie 2015 und noch 2016, hätte eine aggressive Grenzsicherung gegen Flüchtlinge zum Zusammenbruch jeder Ordnung in Südosteuropa geführt. Grenzen, wie sie die EU an ihrer Südostflanke hat, verteidigt man in der Tiefe des Raumes, und die Tiefe des Raumes ist nun einmal die Westtürkei. Wenn wir uns vorstellen, die Türken hätten sich nicht auf den Deal mit Merkel eingelassen und Deutschland hätte sich nicht als „Überlaufbecken“ für die Flüchtenden geöffnet, dann hätten sich Menschen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Albanien – das sind ja alles keine Heroen der Verwaltungseffizienz – und natürlich Griechenland zurückgestaut. Das sind nicht nur schwache, fragile Staaten, sondern obendrein sind sie auch noch unterlegt mit einer hohen religiös-ethnischen Konfliktlage. Der Südostzipfel Europas wäre zusammengebrochen und Griechenland mit. Dann wäre mit einem Schlag die Eurokrise wieder aufgeflammt. Und gleichzeitig hätte man eine menschliche Katastrophe gehabt, die vielleicht der der Rohingyas heute vergleichbar ist. Es sind verbale Kraftmeiereien, wenn jetzt einige erzählen, sie hätten die Balkanroute geschlossen – egal ob das jetzt ein mazedonischer Präsident oder ein österreichischer Politiker ist.

Wie bei der Schließung der Mittelmeerroute?
Münkler: Auch das muss Europa in Libyen hinbekommen. Auf dem Mittelmeer selbst ist da gar nichts zu schließen. Mir ist nicht bekannt, dass die Republik Österreich eine nennenswerte Flotte hat. Admiral Tegetthoff ist schon länger her. Die in die Ägäis entsandten Marineverbände der Nato waren wichtig, um die Kommunikation zwischen Griechenland und der Türkei überhaupt herzustellen. Also das ist der Punkt. Es bleibt die geostrategische Lage der Türkei, egal wie unangenehm uns Erdoğan ist. Auf dem Balkan kann man so viele Stacheldrahtbarrieren aufbauen, wie man will. Die Türkei ist der Schlüssel.

Europas Schicksal hängt von Erdoğans Willen ab?
Münkler: Genau. Jetzt gibt ihm die EU drei Milliarden pro Jahr, damit er den Stöpsel drinbehält. Wahr ist aber auch, dass die Türkei mit zwischen 2,5 und drei Millionen Flüchtlingen die Hauptlast der sich auflösenden Ordnung des Vorderen Orients trägt. Insofern ist das nicht nur ein Abkauf, sondern auch eine Hilfe für die Bewältigung von Problemen. Aber wenn Erdoğan schlechte Laune hat und aus irgendwelchen Gründen den Stöpsel wieder zieht, wird sich schnell zeigen, wie das mit der Balkanroute ist.

Flüchtlinge und diese Wassermetaphorik sind so eine Sache. Aber wenn Deutschland das Überlaufbecken im Sommer 2015 war, was waren dann Österreich und die nachfolgenden Länder? Kanäle, wo die Schleusen geöffnet oder geschlossen wurden?
Münkler: Teilweise hatte Österreich auch Beckenfunktion, weil ja doch eine erhebliche Anzahl von Flüchtlingen in Österreich geblieben ist. Schweden war zeitweilig ein nachgelagertes Becken, wo dann relativ schnell die Grenzen der Aufnahmefähigkeit proklamiert wurden. Diese Abfolge von Aufnahmeländern ist bemerkenswert. Man hätte ja auch sagen können, das Problem ist eine Folge des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs am Ende des Ersten Weltkriegs. Wer war dafür verantwortlich? Sykes und Picot, also die Briten und die Franzosen. Sollen die doch für die späten Kosten ihres imperialen Agierens aufkommen.

Aber denkt irgendein Politiker noch in solchen historischen Dimensionen?
Münkler: Nun, es gibt doch diejenigen, die jedes Problem als eine Folge von Kolonialismus und Imperialismus darstellen. Die hätten im Herbst 2016 ja so argumentieren können. Die große Leistung von Angela Merkel in dieser Frage war, dass sie gesamteuropäisch gedacht hat. Also nicht: Wer ist daran schuld und wer hat das zu verantworten und in welcher Form war das der Imperialismus, Kolonialismus, was auch immer? Sollen die Flüchtlinge nach Frankreich, Großbritannien oder in die USA? Sondern sie hat das als eine Bedrohung des europäischen Projekts gesehen, auf die sofort zu reagieren ist. Und da Deutschland aufgrund seiner ökonomischen Lage am ehesten befähigt war, als Überlaufbecken zu agieren, hat sie sich entschlossen, die Europaräson in dieser Frage höher zu stellen als die Räson der Partei. So wie Gerhard Schröder bei der Agenda 2010, die aus dem damals kranken Mann Deutschland einen wieder vitalen ökonomischen Akteur gemacht hat, die Staatsräson höher gestellt hat als die Parteiräson. Was aber die SPD den Wahlsieg gekostet hat. Selbstverständlich war Merkel klar, dass gewisse Teile der Partei ihren Entschluss, dieses „Wir schaffen­ das!“, nicht goutieren werden, und an den Ergebnissen der Bundestagswahl konnte man das auch sehen. Aber das ist nun einmal die Aufgabe einer – wie ich es nenne – „Macht in der Mitte“. Sie ist die Hüterin der Ordnung – nämlich in diesem Falle der Europäischen Union. Deswegen hat Deutschland auch ein erhöhtes Gewicht innerhalb des EU-Verbandes, der permanent Leistungen im Sinne von Common Goods, von Gemeinwohl, abverlangt. Eigentlich würden wir Deutsche uns ja gerne wieder verstecken, hinter dem Rücken Frankreichs etwa, aber das geht jetzt nicht mehr. Das heißt auch, wie der frühere polnische Außenminister Radosław Sikorski das einmal formuliert hat: Wenn die Deutschen diese Aufgaben nicht wahrnehmen, dann kollabiert die EU.

Macron hat in einer großen Rede seine Idee einer gemeinsamen EU-Außen-, Sicherheits-, aber auch Sozialpolitik gefordert. Was halten Sie für realistisch?
Münkler: Eine Sozialunion ist auch für eine Regierung in Deutschland, selbst wenn es eine rot-rot-grüne Koalition geworden wäre, kein Thema. Da hätte spätestens die Linke auf die Bremse getreten. Ich halte mehr gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik indes für essenziell. Nur so lässt sich auf diese vielschichtigen Probleme reagieren, von der Schuldenkrise bis zu den Migranten und ihrer Integration, die die Zentrifugalkräfte innerhalb der EU freigesetzt haben. Dabei sind nicht die Russen und ihr Auftreten in der Ostukraine unser Problem. Die eigentliche Herausforderung sind die kollabierende Ordnung des Nahen Ostens und die gegenüberliegende Mittelmeerküste sowie die dahinterliegende Sahelzone. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, wird Europa nicht nur durch die Flüchtlingsströme, sondern auch durch seine Reaktionen auf die Flüchtlingsströme ein Problem bekommen.

Welche Szenarien sehen Sie dann?
Münkler: Das erste Szenario ist: Europa zerfällt in mindestens drei Teile. Es bildet sich ein Südbereich der überschuldeten Staaten mit starken national-separatistischen Tendenzen in Italien und Spanien, und es bildet sich ein wirtschaftsliberaler Teil, bei dem die Franzosen vermutlich dazugehören werden und Deutschland und Benelux und wohl auch die Skandinavier. Und dann gibt es halt noch Osteuropa. Das zweite Szenario wäre Agonie: Es passiert gar nichts; die Leute in Brüssel wursteln weiter vor sich hin. Das dritte Szenario ist ein Kerneuropa, das gewissermaßen ein Direktorium darstellt mit einem System von Grenzringen oder Ellipsen der weniger stark integrierten Länder.

Bräuchte es dann auch eine heroischere Kultur für dieses Kerneuropa?
Münkler: Wir werden sicher keine heroischen Gesellschaften mehr. Die beiden Vor­aussetzungen, Knabenüberschuss und religiös stimulierte Opferbereitschaft – wobei der Nationalismus als eine politische Religion anzusehen ist –, sind nicht mehr vorhanden. Das heißt aber nicht, dass solche Gesellschaften militärisch nur eingeschränkt handlungsfähig sind; sie müssen versuchen, gemeinschaftliche Streitkräfte zu schaffen, die von ihrem Equipment her in der Lage sind, mit minimalen Verlusten Stabilisierungsleistungen zu erbringen. Da müssen die Europäer zurzeit lernen. Aber diese Verbände müssen von der Gesellschaft akzeptiert sein, damit sie auf Dauer Bestandteil einer demokratischen Ordnung bleiben und keinen Staat im Staate bilden. Das ist nicht ganz leicht. Das ist etwas, womit die Küstenstaaten – Großbritannien, USA und derlei mehr – sehr viel mehr Erfahrungen haben, weil sie nur ausnahmsweise auf das kontinentale Konzept der allgemeinen Wehrpflicht gesetzt, sondern immer mit Berufsarmeen agiert haben.

Analysen wie diese eben brachten Ihnen die Kritik ein, Sie seien ein Militarist und Gewaltverherrlicher. Vor zwei Jahren wurden Sie von einer anonymen Gruppe namens „Münkler-Watch“ massiv kritisiert.
Münkler: Ich hatte eine Vorlesung „Einführung in die Geschichte des politischen Denkens“ gehalten. Man hat mir vorgeworfen, es seien bei den Themen nicht genug Frauen dabei. Aber das kann ich nun einmal nicht ändern. In den zweieinhalbtausend Jahren Geschichte von Platon bis heute tauchen nun einmal erst im 20. Jahrhundert Frauen auf. Dann hieß es, es sei zu wenig China dabei. Da habe ich gesagt, ich könne gern auch Mao Zedong als Theoretiker des Partisanenkriegs vorstellen, aber das sei nicht der Kanon, der in der Klausur am Schluss geprüft werde. Oder wir veränderten den Kanon, dann müssten sie aber schwierigere Klausuren schreiben. Da waren die anwesenden Studis sehr dagegen. Wovon die berichtenden Journalisten indes nicht gesprochen haben. Es war ein „Sturm im Wasserglas“.

Was sagt das über die Mechanismen aus, wie heutzutage Öffentlichkeit entsteht?
Münkler: Es hätte mich beeindruckt, wenn da 100 Studenten physisch präsent gewesen wären. Aber Leute, die sagen, sie müssen anonym bleiben, weil sonst ihre Karriere gefährdet sei! Wenn die selbsternannten Gesellschaftsveränderer Karrieristen von so erbärmlicher Feigheit sind, dann ist von ihnen nicht viel zu erwarten. Und natürlich dreht sich alles um Political Correctness. Auf die Dauer ist dieses Justemilieu der Korrektheit nervig. Dem kann keiner genügen. Es ist ein Machtmittel, wenn alle sich schuldig fühlen und angeklagt werden können. Das entschuldigt nicht die sexuellen Belästiger bis Vergewaltiger. Bei denen geht es um Taten. Ansonsten um die Herrschaft des diffusen Verdachts.

Was konnten Sie dagegen unternehmen?
Münkler: In dem Augenblick, in dem ich begriff, dass ihre Anonymität ihre eigentliche Stärke ist und sie alles von sich behaupten konnten, wusste ich, wie ich zurückschlagen musste. Ich habe also behauptet, dass man ja nicht ausschließen könne, dass Münkler-Watch von mir selbst gesteuert werde – aus Gründen der Eitelkeit, der Geldgier, was auch immer. Und danach war dann Ruhe.

Ist das eine Modebewegung?
Münkler: Vermutlich. Das Ganze führt letzten Endes in kleine Auseinandersetzungen, in denen dann die Sprachpolizei an jeder Ecke steht. Natürlich bin ich unangenehm aufgefallen, als ich aus Respekt vor den Formeln der Genderkorrektheit irgendwann einmal gesagt habe, „als 1933 die ­Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen in Deutschland die Macht übernommen haben“. Das war dann auch wieder nicht korrekt. Wenn politische Auseinandersetzungen nur auf bestimmte Sprach­formen konzentriert sind, kommt nichts Vernünftiges heraus. Ich glaube, das wird sich auch wieder verlieren, sobald in den Führungsebenen Frauen gleich respräsentiert sind. Dann gibt es eine gelassene Si­tuation, in der man nicht permanent mit Etikette vortäuschen muss, alle seien gleich. Der gesellschaftliche Wandel wird dieses Problem lösen. Aber es gibt politische Probleme, die man weiterhin benennen können muss. Dazu ist inzwischen etwas Mut erforderlich. Den will ich weiterhin aufbringen.

Barbaba Tóth in FALTER 45/2017 vom 10.11.2017 (S. 13)

Monday, November 13, 2017 9:41:00 PM
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