Wir gehören nicht zu den Machteliten. Artikel der Wiener Zeitung vom 25.03.2016, 14:18 Uhr von Thomas Seifert und Saskia Blatakes
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Eliten und Volk sind einander fremd geworden, die Kommunikation ist gestört. Elitenforscher Michael Hartmann über die Gründe.
"Trump ist zwar reich, führt sich aber auf wie einer, der es vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft hat. Da ist nur gar nichts dran", sagt Michael Hartmann im Interview. © WZ
"Wiener Zeitung": Das Phänomen Donald Trump und der Rechtsruck in Europa - Zeichen für ein Elitenproblem?
Michael Hartmann: Trumps Erfolg beruht darauf, dass er sagt: "Ich bin nicht das Establishment" - das sind der Clinton- oder Bush-Clan und all jene, die in Washington schon seit ewigen Zeiten regieren. Dieselbe Linie verfolgt Marine Le Pen in Frankreich. Sie spricht von den verknöcherten Eliten in Paris, von den Absolventen der Eliteschulen wie die der École nationale d’administration, ENA, die aus großbürgerlichen Familien stammen. Le Pen behauptet, anders zu sein. Das stimmt, schaut man genau hin, allerdings weder bei ihr noch bei Trump. Aus dem Ressentiment gegenüber den Eliten in den Machtzentren speist sich aber der Erfolg solcher Personen.
In Deutschland erleben wir den Aufstieg der Alternative für Deutschland, AfD. In Österreich war es mit der FPÖ ja auch nicht anders, hier waren es die zwei Großparteien SPÖ und ÖVP, die immer die Macht hatten. Jörg Haider hat sich als Mann des Volkes dargestellt, was er nun wahrlich nicht war. Auch beim Front National hat der Wahlkreis Elsass-Lothringen einen Kandidaten, der Absolvent der ENA war - das hat viele Leute bisher aber nicht gestört. Es reicht das Label "Wir gehören nicht zu den Machteliten" - zumindest so lange, bis sie Regierungsverantwortung übernehmen müssen.
Elitenforscher Michael Hartmann über deutsche Finanzminister: Früher waren sie Söhne von Arbeitern, heute sind sie Söhne von Steuerberatern.© Luiza Puiu
Information
Zur Person
Michael Hartmann, geboren 1952 in Paderborn, ist Soziologe und Deutschlands profiliertester Elitenforscher. In Wien sprach er zuletzt auf der WU-Konferenz "Wachstum im Wandel".
Trump ist Multimilliardär. Wie passt das zusammen?
Er ist zwar reich, führt sich aber auf wie einer, der es vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft hat. Da ist nur gar nichts dran. Schon sein Vater war sehr reich und die Familie hat einen Großteil des Vermögens der Tatsache zu verdanken, dass sie öffentliche Gelder sehr geschickt in ihre Taschen gelenkt hat. Aber das interessiert seine Wähler nicht. Hauptsache, er ist kein Bush, keine Clinton, Hauptsache, er saß noch nie im Senat oder Repräsentantenhaus. Der republikanische Kandidat Trump ist ein "Neuer", allein das reicht im Augenblick.
In Deutschland ist die Rede von der Lügenpresse, in den USA wurde zuletzt bei einer Veranstaltung der Republikaner auf Reporter regelrecht losgegangen. Gehört die Presse auch zur verhassten Elite?
Bei einem Teil der Bevölkerung ist das so, und die Journalisten sind daran nicht ganz schuldlos - zumindest in Deutschland. Heute haben die meisten großen Zeitungen Hauptstadtredaktionen in Berlin. Und die Journalisten wohnen auch in Berlin. In Bonn war das nicht der Fall, dort wollte niemand hin. Bonn war Provinz, Berlin ist hip. Ein Teil der Berliner Journalisten begreift sich auch nicht mehr als Kommentator oder Berichterstatter, sondern als politischer Gestalter. Sehr deutlich wurde das unter Kanzler Gerhard Schröder, gilt aber im Kern bis heute. Zum Beispiel das "Spiegel"-Hauptstadtbüro: Das sind Leute, die wollen auch Themen setzen, politisch direkt Einfluss nehmen, und damit sind sie nicht die Einzigen. Dazu kommt, dass die Themen, die die Journalisten anpacken und ihre Sicht der Dinge geprägt sind von der "Glocke", unter der sie leben. In dem Quadratkilometer zwischen Brandenburger Tor und Gendarmenmarkt sitzen fast alle Redaktionen, ob Fernsehen oder Zeitungen, dort finden Sie die Vertretungen der großen Konzerne, die Lobby-Agenturen, die angesagten Restaurants. Dort treffen sich die Leute regelmäßig und mit den Politikern, die nicht weit davon entfernt im Bundestag sitzen, und gleichen sich in ihren Ansichten zunehmend an. Man bestätigt sich untereinander und entfernt sich damit vom Leben der normalen Bevölkerung. Das führt dazu, dass man sich vor allem in städtischen Problembezirken und eher provinziellen Landstrichen bei der Berichterstattung oft wie auf einem anderen Stern fühlt.
Wie repräsentativ sind die politischen Eliten?
Die soziale Rekrutierung hat sich seit den 1990ern massiv verändert. Ein gutes Beispiel ist der Finanzminister, die zweitwichtigste Person in der Regierung: Theo Waigel war Sohn eines Maurers, er war Minister unter dem Beamtensohn Helmut Kohl. Danach kamen Hans Eichel und Peer Steinbrück, beides Söhne von Architekten. Bei Letzterem gab es sogar familiäre Verbindungen zu einer einflussreichen Bankiersfamilie. Danach kam Wolfgang Schäuble, sein Vater war Steuerberater und Landtagsabgeordneter. Man merkt also, dass sich da bezüglich der Herkunft viel verändert hat. Diese Leute bringen bestimmte Denkweisen mit.
Welche?
Bei den meisten Unternehmern und akademischen Freiberuflern lautet eine Binsenweisheit: Wir zahlen zu viel Steuern, der Staat kann nicht mit Geld umgehen und deshalb sollten wir ihm möglichst wenig geben. Steuertricks sind gang und gäbe - in meiner Heimatstadt Paderborn fuhr man nach Luxemburg statt in die Schweiz. Es gab die abstrusesten Steuertricks. Der wohlhabendste Apotheker der Stadt legte sein Geld in Ost-Immobilien an, nur um bloß keine Steuern zahlen zu müssen, und ging damit letztlich sogar pleite.
Sie haben die Eliten in Europa untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
In Skandinavien sind die Eliten am offensten. Deutschland war immer im Mittelfeld, Österreich ist es heute noch. In Großbritannien, Frankreich und Spanien ging es schon früher exklusiv zu. In Frankreich ist die Differenz zwischen Volk und Eliten - was soziale Rekrutierung und Bildungswege der Politiker angeht - traditionell am größten.
Aber wie viel sagt das wirklich aus? Bruno Kreisky stammte aus dem Wiener Großbürgertum, trotzdem machte er Politik für das Proletariat.
Stimmt. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Gerhard Schröder (Kind einer alleinerziehenden Mutter, die Familie war auf Sozialhilfe angewiesen. Schröders Amtszeit war von Kürzungen staatlicher Leistungen geprägt, Stichworte Agenda 2010 und Hartz IV, Anm.). Krasser als Schröder und Kreisky könnte der Vergleich kaum ausfallen. Aber es gibt trotz solcher Einzelfälle statistisch einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Einstellung. Bis zur Jahrtausendwende gab es in Deutschland wie in Österreich und Skandinavien eine relativ offene politische Elite, die kleinbürgerlich geprägt war und immer mit einem erheblichen Anteil an Arbeiterkindern. Im Vergleich zu bürgerlichen Regierungen haben sie in der Regel damals eine sozialere Politik gemacht.
Die US-amerikanische politische Klasse gilt als elitär …
Die USA sind das Land mit den größten Ungleichheiten. Mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan im Jahr 1981 haben sich zwei Dinge radikal verändert: Erstens die Steuerpolitik und damit die Einkommensschere, denn die geht seitdem dramatisch auseinander. Zweitens die Rekrutierung der wichtigen Kabinettsmitglieder, die vorher mehrheitlich aus der Mittelschicht und der Arbeiterschaft stammten. In den Kabinetten von Ronald Reagan und George Bush Senior kamen auf einmal 85 Prozent von ihnen aus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Die radikal neue Steuerpolitik, die folgte, wurde also von Kabinetten beschlossen, die eine völlig andere soziale Zusammensetzung hatten als vorher. Neue US-Studien zeigen: Wenn sich die Meinung der Bevölkerungsmehrheit und der Reichen unterscheidet, setzen sich die Reichen durch. Im Kongress sind mittlerweile mehr als die Hälfte der Abgeordneten Millionäre. Die stimmen entsprechend ihrer sozialen Lage ab. Das Sein prägt das Denken von Leuten und das dann ihr Verhalten. Wenn politische und wirtschaftliche Eliten eng verbandelt sind, bestätigt man sich die Positionen außerdem untereinander immer wieder.
Sie haben den steuervermeidenden Apotheker erwähnt. In den Achtzigerjahren meinte man, mit der Reagan-Revolution eine Revolte der Eliten zu erkennen …
Das stimmte schon damals nicht so ganz, denn man hat anfangs einen erheblichen Teil der Normalbevölkerung "mitgenommen". Wenn man sich die britische Premierministerin Margaret Thatcher und den US-Präsidenten Ronald Reagan ansieht, hatten die Erfolge, weil sie auch Facharbeitern und mittleren Angestellten einiges versprochen haben. Von der Steuerpolitik profitierten zwar vor allem die Reichen, aber in den Anfangsjahren eben auch Teile der Mittelschicht. Als die dann nicht mehr gebraucht wurde, war es vorbei mit den Vergünstigungen. Kulturkampf spielte auch eine Rolle. Von den Achtundsechzigern mit ihrem Kiffen, ihrer Promiskuität und ihrer Sympathie für die Minderheiten wollte man sich absetzen. "Wir sind weiße, tüchtige Arbeiter" - dieses Gefühl hat Reagan erfolgreich angesprochen.
Wie erklären Sie sich diese derzeitige Anti-Establishment-Stimmung?
Heute herrscht diese diffuse Angst: "Die nehmen uns unser Land weg." In den USA fürchtet man die Hispanics und die Schwarzen, in Europa die Flüchtlinge. Historisch ist es oft so: Wenn sich die Lage materiell verschlechtert, entstehen Verlustängste. Mich erinnert das sehr an die Zeit, als die Aussiedler aus der Ex-UdSSR nach Deutschland kamen. In meiner konservativen Heimatstadt Paderborn entstanden damals sogenannte "Russen-Ghettos". Es gab einen Aufschrei, die Rede war vom Untergang des Abendlandes. Heute spricht keiner mehr darüber. Danach kamen die Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, auch das ist vergessen. Das kann mit den heutigen Flüchtlingen auch so kommen. Das kann niemand im Augenblick sicher sagen.
Gibt es heute einen Aufstand gegen die Eliten?
Seit 1989 ist im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung fest verankert, dass das derzeitige Wirtschaftssystem keine Alternative hat. Insofern gibt es keinen wirklichen Aufstand gegen das System. Was es aber gibt, das sind politische Verschiebungen, oft nach rechts, in einigen Ländern aber auch nach links. Das sieht man in den USA. Dort galt der Kapitalismus immer schon als einzige Möglichkeit. Der Erfolg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders zeigt aber, dass zumindest die Jugend nicht mehr an das Märchen "Vom Tellerwäscher zum Millionär" glaubt. Ein großer Faktor sind dabei die Studiengebühren. Vor 20 Jahren noch konnte man die Kosten für das Studium, auch in Harvard, in einigen Jahren abbezahlen, wenn man wie die Mehrheit einen guten Job abbekam. Seitdem sind die Gebühren kontinuierlich stark gestiegen. Man bekommt die Jobs mehrheitlich aber nicht mehr. Es gibt eine ganze Generation, die merkt, dass ihr etwas versprochen wurde, was nie eingelöst werden wird. Das ist für die USA ein radikaler Wandel. Auch Vermögen und Einfluss der Finanz-Eliten steigen kontinuierlich. Aber über das reichste Prozent wissen wir wenig.
Wieso?
Seit der Abschaffung der Vermögenssteuer hat man in vielen Ländern keine verlässlichen Daten mehr. Man muss auf Umfragen zurückgreifen, das sind nur Stichproben. Die wirklich Reichen werden dabei überhaupt nicht erfasst, es gibt allenfalls Schätzungen. Dazu kommt, dass viel Geld in den Steueroasen landet. Über die Summen kann man nur spekulieren, vor allem in der Karibik. Viele reiche Deutsche gehen in die Schweiz, weil man dort den Steuersatz individuell verhandeln kann. Von den 300 reichsten Personen in der Schweiz ist jeder fünfte ein Deutscher. Die Aufregung darüber hält sich in Grenzen. Vermögen spielt in der öffentlichen Debatte nicht so eine Rolle. Ob einer zehn Milliarden hat oder fünfzig ist für die Normalbevölkerung nicht mehr erfahrbar. Einkommen sind da greifbarer. Wenn ein Manager siebzehn Millionen Einkommen hat, schreien alle auf. Gleichzeitig kassieren die Quandt-Geschwister bei BMW 815 Millionen Euro Dividende - darüber wird kaum berichtet.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Demokratie?
Es führt dazu, dass diejenigen, die sich abgehängt fühlen, zwei Möglichkeiten haben: Entweder sie wählen Protest oder sie gehen nicht hin. Beispiel letzte Bundestagswahl in Köln: Im Problembezirk Chorweiler gibt es eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent, Wahlbeteiligung 42,5 Prozent. Im Villen-Bezirk Hahnwald im Süden der Stadt zeigt sich ein völlig anderes Bild: Arbeitslosenquote ein Prozent, Wahlbeteiligung 88,7 Prozent. Das erleben wir in allen Städten. Bei den Armen verfestigt sich die Meinung: "Die da oben interessieren sich sowieso nicht für uns." Ich habe zehn Jahre im Mainzer Bezirk Lerchenberg Fußball gespielt. Das Team bestand aus einer kuriosen Mischung: Die Älteren waren vielfach Staatssekretäre, Redaktionsleiter und Ähnliches, die Jüngeren kamen aus dem Hochhausblock "Papageiensiedlung". Sie stammten aus Korea, Afghanistan oder Irak und mussten sich zum Teil irgendwie durchschlagen. Natürlich haben die sich nicht dafür interessiert, was politisch passiert. Das war nicht ihre Welt. In den USA ist das schon lange so. Das obere Prozent hat über 90 Prozent Wahlbeteiligung, das untere Drittel nur gut 30 Prozent. Überspitzt heißt das: Wenn man als Politiker die Unterstützung der oberen Segmente hat, braucht man den Rest nicht mehr.