Großbritannien im Wahl(kampf)fieber


Großbritannien im Wahl(kampf)fieber

Am 7. Mai wählen die Briten ein neues Parlament. Und weder die Tories noch Labour können mit einer absoluten Mehrheit rechnen. Die Schot­tische National­partei könnte eine ent­scheidende Rolle spielen.

Von Melanie Sully

Sucht man nach einer augenfällige­n Gemeinsamkeit zwischen dem britischen und dem österreichischen Parlament, so findet man sie in der akuten Re­no­vie­rungs­­be­dürf­tig­­keit beider Gebäude: Die Dächer sind un­dicht, das Mauer­werk bröckelt – und über die Renovierungs­kosten wird ge­stritten. Derzeit macht außer­dem der Vor­schlag die Runde, für den Zeit­raum der Renovierungs­arbeiten das Parlaments­geschehen aus London hinaus in die Regionen zu ver­­­la­gern, um das Parlament näher an die Be­völ­ker­ung zu bringen. Zuvor findet jedoch noch Wahlen zum britischen Unter­haus statt.

Bereits Ende März hat Queen Elizabeth auf Vorschlag des Premier­ministers das Par­la­ment auf­ge­löst. Die Wahl findet am 7. Mai, der traditionellerweise ein Donnerstag und somit ein normaler Arbeitstag ist, statt. Historisch lässt sich der Wahl­tag damit be­gründen, dass in früheren Zeiten der Tag die Halb­zeit für jene bedeutete, die in die Städte zum Wochenmarkt kamen.

Ein Land ohne Parlament

Am Tag der Auflösung des Parlaments endet die Funktionsperiode der Abgeordneten, die daraufhin ihre Büros räumen und ihre Zutrittskarten retournieren müssen, da ein weiterer Aufenthalt in den Par­­la­­ments­­räum­lich­keiten ver­­boten ist. Im Gegen­satz zu Deutsch­land oder Öster­reich hört das britische Par­la­ment vor einer Wahl zu existieren auf, während der Wahlkampfzeit bis etwa zwei Wochen nach der Wahl gibt es kein Par­la­ment. Ausschüsse treten nicht zusammen und es finden weder De­bat­ten noch Abstimmungen statt. Daher ist es auch unmöglich, Sonder­sitzungen zu nationalen oder inter­nationalen Krisen einzuberufen. Dieses Entscheidungsvakuum, auch in Bezug auf EU-Angelegenheiten, wird durch die Regierung gefüllt, die hierfür keiner par­la­men­tarischen Kontroll­e unterliegt. Die 750-jährige Geschichte des Parlaments bestand somit immer wieder aus Unterbrechungen der Tätigkeit in Wahl­kampf­zeiten, welche nach geschlagenen Wahlen wieder aufgenommen wurde. Dieses Mal ist der Ausgang der Wahl jedoch alles andere als gewiss.

Wer mit wem?

Während der letzten fünf Jahre wurde Großbritannien von einer eher ungewöhnlichen Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten regiert. Der Koalitionspakt wurde zwischen den Parteie­n 2010 in der Rekord­zeit von fünf Tagen aus­ge­arbeitet, ein Um­stand, den die Liberal­demokraten später bereuen sollten. In Groß­britannien ist es Usus, dass nach einer Wahl schnell eine neue Regierung steht. Der neue Premier­minister präsentiert für ge­wöhnlich einen Tag nach der Wahl der Queen die Namen seiner Regierungs­­mit­glieder. Dieses Mal sieht es, wie schon 2010, aller­dings danach aus, dass keine Partei die absolute Mehr­heit auf sich ver­einen können wird. Sondierungs­gespräche mit anderen Parteien, ein in Öster­reich bekanntes Prozedere nach einer Wahl, sind deshalb vorprogrammiert.

Unter den Herausforderern finden sich nationale Parteien, wie bei­spiels­wei­se die Schottische Nationalpartei, die, begünstigt durch das Un­ab­hängig­keits­referendum des letzten Jahres, auf breite Unter­stützung zählen kann. Darüber hinaus sind die Konservativen nun mit einem un­angenehmen Gegner kon­frontiert, den die Partei unter Premier­ministerin Thatcher mit Kräften zu ver­hindern suchte: Konkurrenz von rechts. Die Unite­d Kingdom Independence Party (UKIP), welche sich in jüngerer Ver­gangen­heit etablieren konnte, bedroht mit ihren Ressentiments und Breit­schlägen gegen EU und Immigranten aller­dings nicht nur die Tories, sondern auch die Labour Party.

In der jetzigen Legislaturperiode sind im britischen Unterhaus an ein Dutzend verschiedene Parteien vertreten, darunter auch die (nord-)irische Sinn Fein. Deren Abgeordnete, die als strenge Re­pu­bli­ka­ner als einzige den Treue­schwur auf die Queen ver­weigern, beteiligen sich weder an Debatten noch an Ab­stimmungen. Auch wenn sie regulär ge­wählt sind, er­halten die Parlaments­mit­glieder der Sinn Fein daher kein Gehalt. Die Forderungen Schott­lands nach ver­stärkter Auto­nomie und die damit möglicher­weis­e ver­bundenen Mehr­kosten für Nord­irland könnten jedoch die Ab­geordneten der Sinn Fein dazu be­wegen, ihre total­e Stimmen­ent­haltung auf­zu­geben.

Ungewöhnlich für Groß­britannien, gab es in letzter Zeit Gerüchte über die Bildung einer großen Koalition zwischen Labour und den Kon­ser­va­tiven. Die so mit enormer Machtfülle ausgestattete Regierung würde ungefähr 85 % der Par­la­ments­sitze auf sich ver­einen. Da die Partei­disziplin im britischen Unter­haus schwach aus­ge­prägt ist, wäre die groß­e Koalition eine Ein­ladung für Hinter­bänkler auf beiden Seiten zu revol­tieren. Solche Auf­stände waren in der Ver­gangen­heit nicht nur un­an­genehm für die jeweilige Partei, sie führten mit­unter auch zu Richtungs­wechsel­n in der Politik.

Einer Minderheitsregierung wiederum würden ausreichende Chancen eingeräumt werden, die Legislatur­periode heil zu über­stehen, da Neu­wahlen vor Ablauf der 5-Jahres-Frist per Gesetz stark einge­schränkt worden sind.

Volksabstimmungen

Sollten die Konservativen nach der Wahl wieder die Regierung anführen, wird das im Raum stehende „Brexit“-Referendum in der Er­öffnungs­rede der Queen vor dem Parlament mit Sicher­heit prominent an­ge­sprochen werden. Premier­minister Cameron hat zwar ver­kündet, sein Land in der EU halten zu wollen, gleich­zeitig aber zu­ge­geben, es würde ihm, wie ein Verlust Schott­lands es getan hätte, „nicht das Herz brechen“, trete Groß­britannien aus der EU aus. Beim Juni-Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs wäre die EU sohin mit Forderungen seitens Groß­britanniens kon­frontiert, die wechsel­seitigen Be­ziehungen neu zu ver­handeln. Bis jetzt reichten die Reaktionen der EU und anderer EU-Länder auf die britischen EU-Austritts­pläne von Besorgnis bis zu blanker Ab­lehnung. Die Er­fah­rungen mit der schottischen Ab­stimmung zeugten jedoch von einem hohen Grad demokratische­r Reife und wurden partei­über­greifend als Mehr­wert einer demokratischen Regierungs­führung an­ge­sehen.

Als Vorteil des britischen Wahlsystems eines relativen Mehr­heits­wahl­rechts, bei dem der­jenige Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen auf sich ver­eint, wird oft ge­nannt, dass es für klare Resultate sorge. Eine Wahl­rechts­reform wurde in einem Referendum 2011 über­wiegend ab­ge­lehnt.

Diesmal könnte die Labour Partei zwar mehr Stimmen auf sich vereinen, jedoch weniger Mandate als die Konservativen erreichen. Auch entdeckt die UKIP, die das Verhältnis­wahl­recht bis­weilen als „europäisches“ Kon­zept kritisiert hatte, es nun für sich. Trotz allem besteht Konsens da­rü­ber, dass eine Wahl­rechts­reform nur mittels Volks­ab­stimmung zu­lässig wäre.

Von einer Wahlrechts­reform abgesehen, müssen die zukünftigen Verhältniss­e zwischen Großbritannien und Schottland im Parlament erst ver­handelt und ge­staltet werden. Für viele ist dabei ein weiteres Referendum am Ende dieses Prozesses nicht aus­ge­schlossen.

Die britischen Unterhauswahlen am 7. Mai könnten aus diesen Gründen den Startschuss zu einer fundamentalen Verfassungs­reform mit dazu not­wendigen Volks­ab­stimmungen bilden, die das Land für die nächsten Jahre be­schäftigen wird.

Zur Person
Melanie Sully, britische Politologin, ist Direktorin des in Wien an-sässigen Instituts für Go-Governance und war Gastprofessorin für Politik­wissenschaft an der Innsbrucker Universität 1988–91.

http://www.tt.com/home/9891689-91/großbritannien-im-wahlkampffieber.csp?tab=article#

Posted by Allé Wilfried Tuesday, April 28, 2015 7:28:00 PM Categories: Zukunft Europa
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