Der vierte Lock-Daun
19. November 2021, Cathrin Kahlweit, SZ-Korrespondentin in Wien
In Krems in der lieblichen Wachau, wo es derzeit leider genauso grau ist wie im Rest des Landes, finden gerade die Europäischen Literaturtage statt. Das Thema lautet „Reiserouten; unterwegs, um frei zu sein?“ Ein schönes Thema, ein Grund zum Träumen, ein literarisches Sprungbrett für den inneren und äußeren Aufbruch in die Welt. Konnte ja keiner wissen, dass das mit dem Reisen sich schon während der Tagung erneut zum Antagonismus, zu einer unerfüllbaren Sehnsucht entwickeln würde, wo man doch noch vor wenigen Wochen und Monaten geglaubt hatte, mit dem Impfstoff würde auch die Pandemie abebben und man könnte wieder unterwegs sein, Menschen treffen, Länder erkunden.
Aber am Freitag wurde stattdessen ein Lockdown bis Mitte Dezember angekündigt, die Pläne für die Winterferien und die Städtereisen werden also wieder mal vertagt, die Weihnachtsmärkte abgesagt, die Theater geschlossen, die Eltern ans Home-Office gefesselt, die Kinder dürfen, wer weiß, wie lange noch, zur Schule gehen, sollten aber doch besser daheimbleiben, und das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Man kennt das, man hatte das schon, man war damit durch. Bitte nicht schon wieder.
Und was machen die, die nicht geimpft sind, weil sie nicht mögen? Zu faul sind, einen Termin zu machen? Immer noch glauben, man wird unfruchtbar oder taub oder blind? Die irgendwelchen Scharlatanen folgen? Sich bei wissenschaftsfeindlichen Gurus informieren? Von den neuen Juden reden, von Staatsterror, von absoluter Freiheit? Was machen die, die glauben, es gäbe kein Covid-19?
Bei einer Recherchereise in Rumänien habe ich vergangene Woche ein Lungenkrankenhaus besucht. Ich gebe zu, Rumänien ist nicht Österreich, aber das verdammte Virus ist das gleiche. An mir vorbei wurde eine Frau in einem Rollstuhl durch den Gang geschoben, die gerade von der Normalstation, auf der hundert Patienten mit Sauerstoffmasken schwach, deprimiert und allein in ihren Betten lagen, auf die Intensivstation verlegt wurde. Sie rang so schwer nach Luft, sie röchelte so stark, dass sich ihr ganzer Körper um die eigene Achse bog; es war kaum mitanzusehen. Sie war ungeimpft, wie die meisten dort. Ob sie es schaffen würde, fragte ich den rührenden und erschöpften jungen Arzt. Er zuckte mit den Schultern und verwies auf die überfüllte Leichenhalle: „Wir haben sehr viele Tote, immer noch“ (SZ Plus). Berichte über überfüllte Leichenhallen in Kliniken gibt es mittlerweile auch aus Österreich. Ein Wahnsinn.
Derweil hat die Polizei bekannt gegeben, dass am Samstag wieder Tausende durch die Wiener Innenstadt ziehen würden, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren. Man solle besser zu Hause bleiben. Denn: Die Querdenker werden immer aggressiver. Vor wenigen Tagen wurde die Zufahrt zu einer Klinik in Wels in Oberösterreich kurzzeitig blockiert. Herbert Kickl, seines Zeichens FPÖ-Chef, hätte es in der Hand, seinen Follower aufzurufen, den Quatsch sein zu lassen. Keine Pferde-Entwurmungsmittel einzunehmen, sondern einen Impftermin zu machen. Stattdessen hockt er mit einer Corona-Infektion zu Hause und jammert, wie sehr er es bedauere, nicht an der Demonstration teilnehmen zu können. Kickl faselt mittlerweile von „Diktatur“, ein FPÖ-Nationalratsabgeordneter von „KZ-Wächtern“. Ein Trauerspiel.
Ach ja, und der Ex-Kanzler, der doch als österreichischer Supermann die Pandemie quasi im Alleingang bekämpfen wollte, der den russischen Impfstoff Sputnik kaufen und Impfstoffe mit Israel produzieren und benachteiligte europäische Staaten mit Impfstoff beglücken und der EU zeigen wollte, wie das alles geht, wenn man es nur richtig anpackt? Der hat diese Woche, nach einer Phase des öffentlichen Schweigens, im Nationalrat noch einmal betont, dass alle Vorwürfe der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen ihn falsch seien. Viel mehr ist ihm nicht eingefallen.
Seine Hintersassen sollen immer noch seine Rückkehr vorbereiten. Seine türkisen Fahnenträger und Fahnenträgerinnen bekleckerten sich derweil in der Pandemiebekämpfung mit ebenso wenig Ruhm, wie es Sebastian Kurz dereinst tat. Viele Worte, wenig Taten. Bis jetzt, wo es fast zu spät ist und wieder alle gemeinsam dafür einen hohen Preis zahlen. Vielleicht sollte man ihnen eine gute Reise wünschen. Wenn es denn erst wieder möglich ist.
Bleiben Sie gesund!