Vorlesen

 

Ein Service von
Voice Business

 


Makron-Rede: Ja zur Finanztransaktionssteuer
 

Am 26. September 2017 hielt der französische Premierminister Emmanuel Macron eine lange erwartete Grundsatzrede zu seinen Visionen über die Zukunft der Europäischen Union.

Macron wirbt für einen neuen Anlauf bei der Finanztransaktionssteuer. In Frankreich gibt es bereits eine solche Steuer auf Finanztransaktionen, allerdings mit zahlreichen Ausnahmen.

So ist der wichtige Bereich der Derivative von der Steuer ausgenommen. Laut Macron sollen die Einnahmen in die Entwicklungshilfe fließen. Überlegungen zur Schaffung einer EUweiten Finanztransaktionssteuer waren allerdings bereits 2013 gescheitert.

Derzeit laufen Verhandlungen zur Einführung der Steuer in 10 EU-Mitgliedstaaten. Diese waren zuletzt, gerade wegen Frankreich auf Eis gelegt worden: Macron möchte, dass sich jene Finanzinstitute, die nun ihren Sitz wegen BREXIT von London nach Zentraleuropa verlegen, möglichst für Frankreich entscheiden. Eine Diskussion zur Einführung der Finanztransaktionssteuer wäre dabei aus Sicht der französischen Regierung störend.

Macron spricht sich darüber hinaus für eine Finanzierung des EU-Budgets ab 2021 über eine eigene EU-Steuer aus. Herangezogen werden könnte laut dem französischen Premier beispielsweise eine EU-Gewinnsteuer. Notwendig dazu wäre dabei aber eine gemeinsame Unter- und Obergrenze bei den Körperschaftsteuersätzen einzuführen. Zur Bekämpfung des Klimawandels wäre außerdem eine EU-Steuer auf Kohlenstoff wünschenswert.

Die gegenwärtigen CO2-Preise (Verschmutzungsrechte) von 25 bis 30 € wären darüber hinaus viel zu niedrig.

Die Rede im Original in Wort und Schrift ->

Rate this Content 0 Votes

Zehn Fragen - Zehn Antworten
 
Finanztransaktionssteuer: Zehn Fragen - Zehn Antworten

1. Was ist der Unterschied zwischen einer Devisentransaktionssteuer (“Tobin Tax”), einer Börsenumsatzsteuer und der hier geforderten generellen Steuer auf alle Finanztransaktionen?
Die Tobin Tax bezieht sich nur auf Spekulationen mit Devisen (alle grenzüberschreitenden Geldtransfers), eine Börsenumsatzsteuer besteuert die Umsätze an einem bestimmten Finanzplatz. Eine allgemeine Steuer auf Finanztransaktionen ist hingegen eine Abgabe auf alle Transaktionen mit Finanzanlagen wie Derivate, Fonds, Anleihen, Sicherheiten, Devisen und Aktien.

2. Was kann diese Steuer leisten?
John Maynard Keynes hat bereits 1936, sein Schüler James Tobin 1972 die Einführung einer Steuer gegen Währungsspekulationen befürwortet. Die Idee ist “Sand ins Getriebe” der hektischen Transaktionen zu streuen, einfach dadurch, dass für jede Transaktion eine Abgabe gezahlt werden müsste,. Da die FTS vor allem kurzfristige spekulative Derivattransaktionen verteuert, ist davon auszugehen, dass das Handelsvolumen dieser Transaktionen zurückgehen wird. Generell gilt: umso kurzfristiger – und von der Realwirtschaft unabhängiger – die Transaktionen sind, desto höher ist die Verteuerung in Folge der FTS. Der Handel mit Aktien und Zinspapieren sowie der Derivathandel für das Absichern von Geschäften („Hedging“) sind von einer allgemeinen FTS deutlich weniger betroffen.. Anders als die aufwändigen Regulierungsmechanismen, die derzeit zur Aufsicht über das Finanzgeschehen ersonnen werden, wirkt diese Steuer unmittelbar und umfassend, da jede Transaktion davon erfasst ist. D.h. ein Katz- und Mausspiel zwischen Händlern und Kontrolleuren erübrigt sich; man ist nicht davon abhängig, dass Kontrolleure eventuellen Missbrauch zunächst aufspüren und dann ahnden. Aber: Diese Steuer ist auch interessant, weil die so erhobenen Gelder “guten Zwecken” zugutekommen könnten, etwa Armutsbekämpfung, Entwicklung oder Umweltschutz. Die Steuer führt auch zu mehr Steuergerechtigkeit.

3. Hätte diese Steuer die gegenwärtige Finanzkrise verhindern können?
Nein, und sie ist auch kein Allheilmittel gegen zukünftige Krisen. Aber: Sie ist ein wissenschaftlich weit anerkanntes Mittel gegen hochspekulative Transaktionen und sollte deshalb zusammen mit anderen geeigneten Instrumenten (z.B. Verbesserung der Bankenaufsicht, Reform des “Rating”-Systems, Bonus Zahlungen, Basel III...) bei der gegenwärtigen Neuordnung des Finanzsystems mitberücksichtigt werden.

4. Beeinträchtigt eine solche Steuer nicht auch legitime Finanztransaktionen, etwa die Sicherung von Liquidität, Spekulation zum Zweck der Preisfindung oder Risikoabsicherung (“Hedging”)?
Sicherlich soll diese Steuer so ausgestaltet werden, dass sie lediglich überzogen spekulatives Verhalten verteuert und unrentabel macht. Daher muss der Steuersatz niedrig sein, ohne zu niedrig zu sein. Anders gesagt: Der Steuersatz muss niedrig sein, damit “spürbar hohe Kosten” nur dann entstehen, wenn hohe Beträge häufig gehandelt werden (etwa beim computergestützten “Day-Trading”). Der Satz darf aber auch nicht zu niedrig sein, sonst hat diese Steuer keine “lenkende” Wirkung. Ein praktikabler Steuersatz dürfte deshalb zwischen 0,1 und 0,01% liegen.

5. Lohnt sich eine so niedrige Steuer überhaupt?
Ja, zum einen wird es das Geschehen an den Börsen wegen der entstehenden Kosten für die Händler entschleunigen. Zum zweiten wären die auf diesem Weg eingenommenen Beträge erheblich: Das deutsche Bundesfinanzministerium schätzt die Einnahmen allein aus einer Börsenumsatzsteuer (siehe oben, Frage 1) auf 2,5 bis 3 Milliarden Euro, die englische Transaktionssteuer (“stamp duty”) bringt dem britischen Staat jährliche Einnahmen von umgerechnet ca. 5 Milliarden Euro. Das WIFO schätzt die Einnahmen bei EU-weiter Einführung (bei 0.01 %) auf ca. 130 Milliarden USD (oder 0,72 % vom GDP), bei globaler Einführung (bei 0,01 %) auf ca. 320 Milliarden USD (oder 0,53 % vom GDP).

6. Gibt es nicht Beweise dafür, dass eine solche Steuer nachteilig für die einheimischen Finanz- und Wirtschaftstransaktionen sind?
Im wissenschaftlichen Diskurs muss beachtet werden, dass es sich oft um einen Kampf zwischen Anhängern verschiedener Marktkonzepte bzw. Regulierungsvorstellungen handelt, die dann natürlich auch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Entsprechend können kritischen Studien andere Gutachten entgegengestellt werden, die einen positiven Einfluss einer Transaktionssteuer auf das Finanzgeschehen unterstellen. Wichtiger bei der Beurteilung dieser Steuer sind praktische Erfahrungen damit. Dort, wo es schief ging (z.B. Schweden), sollte man genau die Ursachen dafür analysieren und entsprechend Fehler zukünftig vermeiden und dort, wo es positive Erfahrungen gibt (z.B. England, Indien) sollte man überlegen, ob und wie sich diese ausweiten lassen. Eine aktuelle Studie des österreichischen Ökonomen Stephan Schulmeister (WIFO) beschreibt die Nachteile als kalkulierbar gering.

7. Führt eine Transaktionssteuer nicht zur Verlagerung der Finanzgeschäfte dorthin, wo eine solche Steuer nicht existiert, etwa Steueroasen und Finanzparadiese?
Diese Furcht wurde bereits 2002 von Prof. Dr. Spahn, Leiter des Lehrstuhls für Wirtschaftspolitik an der Universität Hohenheim in seiner Studie für das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als überzogen abgetan. Auf S. 45 seiner Studie schreibt er: “Mit der Verlagerung einzelner Terminals ist es nicht getan. Die Vorstellung gar, Devisenmarktakteure könnten aus dem komplexen Netzwerk des Devisenhandels ausbrechen und sich mit ihren Computern in exotische Plätze, wie die Bahamas, begeben, ist geradezu abenteuerlich und grotesk. “London ist der beste Beleg dafür: Trotz einer Transaktionssteuer vom unglaublich hohen 0,5% ist es der weltweit größte Finanzplatz...

8. Macht eine solche Steuer überhaupt Sinn, wenn sie nicht weltweit überall zugleich eingeführt wird?
Natürlich wäre es optimal die FTS weltweit einzuführen. Aber hier sollte zweierlei nicht vergessen werden: Zunächst, dass im Laufe der Jahre bis zu 40 Staaten bereits eine vergleichbare Steuer national eingeführt hatten, wenngleich viele sie später, den Forderungen nach Deregulierung nachgebend, wieder abgeschafft haben. Dennoch gibt es auch heute noch Länder (England, Indien), die ähnliche Steuern ohne erkennbaren Nachteil, aber mit erkennbarem Gewinn, anwenden. Zudem findet Börsenhandel nie auf der ganzen Welt gleichzeitig statt sondern, je nach Tageszeit, schwerpunktmäßig an Handelsplätzen in den folgenden drei Zeitzonen: Der asiatischen (Tokio, Singapur, Hongkong...), der europäischen (London, Frankfurt, Zürich...) und der amerikanischen Zeitzone (New York). Schon die Einführung der Steuer in einer dieser Zeitzonen wäre ein riesiger Erfolg mit globaler Auswirkung.

9. Belegt nicht die Tatsache, dass England trotz der dort existierenden Transaktionssteuer von der Finanzkrise angeschlagen wurde, dass diese Steuer ungeeignet zur Eindämmung von Spekulation ist?
Nein, denn diese Steuer wird nur auf einen kleinen Teil der Transaktionen angewendet, im Fall England wird sie etwa vor allem auf inländische Aktien erhoben, nicht aber auf alle Derivate. Alle ausländischen Papiere, Anleihen und Derivate von der Steuer ausgenommen. Die Tatsache, dass es trotz dieser Steuer zu Einbrüchen kam, ist deshalb eher ein Argument für die konsequente Ausweitung dieser Steuer auf alle Transaktionen und andere Länder.

10. Benachteiligt eine solche Steuer nicht auch private und öffentliche Haushalte, indem Renditen bei der Vermögensanlage (z.B. für die Altersversicherung) sinken?
Primär werden kurzfristig-spekulative Transaktionen mit hohem Risiko benachteiligt und hier gilt nach wie vor, dass dort, wo hohe Renditen sind, auch mit hohem Risiko gespielt wird. Sowohl private als auch öffentliche Anleger können sich also stets fragen, ob sie diese Risiken eingehen wollen, oder ob sie eher auf “Nummer Sicher” gehen und sich dafür mit weniger Rendite zufrieden geben wollen. Nur: Da mittel- und langfristige Vermögensanlagen weniger benachteiligt sind als kurzfristige, und weil ein Vorteil dieser Steuer eine vergrößerte Stabilität auf den Finanzmärkten ist, dürften sich Verluste, so sie in diesem Bereich entstehen, sehr in Grenzen halten.

Rate this Content 0 Votes

Die vernünftigste Steuer in diesen Zeiten
 

Stephan Schulmeister

Die Finanztransaktionssteuer galt als Mittel der Wahl, um die toxischen Wirkungen der spekulativen Finanzmärkte einzudämmen. So sahen es auch viele Politiker in der Eurozone. Inzwischen ist das Projekt scheinbar gekillt. Was ist passiert?

Die Ideen von Ökonomen – egal ob richtig oder falsch – regieren die Welt, meinte Keynes am Ende seines 1936 publizierten Hauptwerks („The General Theory of Employment, Interest and Money“). Hat sich eine Theorie einmal durchgesetzt, so verändert sie die politische „Navigationskarte“, und damit die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht.
Daraus folgt zum einen: Im Denken von Ökonomen vermischen sich Erkenntnis und Interesse, Einsicht und Rechtfertigung stärker als bei anderen Intellektuellen. Und zum anderen: Der Prozess der Theoriebildung ist auch ein Krieg um Vorherrschaft – an Universitäten und in den Medien, aber vor allem in der Politik.
Für die ökonomischen Klassiker wie Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx sind die unterschiedlichen Interessen von Klassen – und die daraus entspringenden Konflikte und Interaktionen - die Triebkräfte gesellschaftlicher Dynamik. Sie begriffen ihre „politische Ökonomie“ als Teil dieser Prozesse und nicht als wertfreie Wirtschaftswissenschaft. Gleichwohl waren sie bestrebt, ihre Theorien auf dem Fundament von Erfahrung und Beobachtung zu errichten.
In wesentlichen Punkten teilte Keynes die Haltung der Klassiker: Auch sein Denken war konkret, problemorientiert und normativ („weltverbessernd“), es berücksichtigte die Interaktion der Interessen von Unternehmern, Arbeitnehmern und (Finanz)Rentiers, sowie den historischen Kontext ökonomischer Entwicklungen und Theorien.
Ganz anders jenes Paradigma, das seit dem 19. Jahrhundert fast durchgehend dominiert: die Neoklassik. Sie sieht die „ökonomischen Gesetze“ als zeitlose „Wahrheit“ und begreift die Akteure als (rein) rationale, ihren Nutzen maximierende Individuen. Und sie kennt weder Klassen noch Gruppeninteressen: Die Ökonomie als wertfreie Wissenschaft.
Die Methode der Neoklassiker ist daher deduktiv-abstrakt. Man setzt Annahmen, welche die Konstruktion von Modellen erlauben, aus denen die erwünschten Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Zum Beispiel: (Finanz)Märkte sind zu liberalisieren, der Sozialstaat ist ein Störfaktor, die Gewerkschaften sind schädliche Monopolisten, Arbeitslosigkeit ist durch Lohnsenkungen, die Staatsverschuldung durch Sparen zu bekämpfen und so weiter.

Ein Flächenbombardement mit falschen Argumenten

Den Denkansatz von Keynes sowie der Klassiker bezeichne ich als „realistische Ökonomie“, den der Neoklassiker dagegen als „idealistische Ökonomie“. Die Abfolge von Prosperität und Depression wird maßgeblich durch die wechselnde Vorherrschaft einer der beiden Weltanschauungen geprägt. Dominiert die „realistische Ökonomie“, so lenkt die von ihr geprägte Navigationskarte das Gewinnstreben systematisch auf Aktivitäten in der Realwirtschaft, insbesondere durch strikte Regulierung der Finanzmärkte. Diese „Spielanordnung“ dominierte in den 1950er und 1960er Jahren. Das hohe und stabile Wachstum wurde durch den Ausbau des Sozialstaats und eine auf viele Bereiche einwirkende Wirtschaftspolitik zusätzlich gefördert.
Diese „realkapitalistische“ Spielanordnung geht an ihrem Erfolg zugrunde: Da dauerhafte Vollbeschäftigung die Gewerkschaften und linken Parteien stärkt, setzen die Unternehmer erneut auf die marktliberale Ideologie. So geschah es Ende der 1960er Jahre: Die Entfesselung der Finanzmärkte verlagerte das Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft; die Folgen waren ein sinkendes Wachstumstempo bei erhöhter Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Die klassische Reaktion von Sparpolitik und Lohnsenkungen haben die Krise nur vertieft und in die Depression geführt.
Die „finanzkapitalistische“ Spielanordnung geht also - wenn auch nur langsam - an ihrem Misserfolg zugrunde,. Die Eliten klammern sich an ihre Navigationskarte und verordnen ständig „more of the same“. Doch je länger die Depression dauert, desto stärker werden die Zweifel. Es folgt eine Übergangsphase, in der das Alte weiterhin nicht funktioniert, eine neue Theorie samt Navigationskarte jedoch noch nicht gefunden ist.
In genau dieser Phase befindet sich Europa heute. Es werden Einzelmaßnahmen vorgeschlagen, um eine Wende herbeizuführen. Din Europa wurde die Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer (FTS) wurde zum wichtigsten Einzelprojekt dieser Art.
Für kein anderes Projekt haben sich so viele kritische Geister und NGOs engagiert. Und sie repräsentieren keineswegs eine Minderheit: 60 Prozent der EU-Bevölkerung ist für die FTS. Auch Politiker wie Merkel und Schäuble fordern diese Steuer. Und die EU-Kommission präsentierte im Herbst 2011 ein FTS- Konzept, auf das sich elf Mitgliedstaaten im Februar 2013 „endgültig“ geeinigt haben.
Doch seitdem hat es die Finanzlobby geschafft, das Projekt zu diskreditieren und schließlich abzuschießen. Es lohnt sich, zu untersuchen, wie das geschehen konnte: Wie besagte Lobby durch ein „Flächenbombardement“ mit falschen Behauptungen auf die Politiker einwirkte, wie Professoren und Notenbanker mit „wissenschaftlicher“ Expertise blufften, auf welche Weise schließlich ein Keil zwischen Deutschland und Frankreich getrieben wurde. Bevor wir uns dieses Lehrstück über Demokratie im Zeitalter des Finanzkapitals vor Augen führen, müssen wir einen Blick zurück in die Geschichte werfen.
Im Frühjahr 1982 brach die erste große Finanzkrise seit 1945 aus, die als Schuldenkrise viele Entwicklungsländer traf und Lateinamerika ein „verlorenes Jahrzehnt“ bescherte. Die Gründe für diese Entwicklung lässt sich in einer (vereinfachten) Kausalkette darstellen: 1971 ließen die USA das System fester Wechselkurse zusammenbrechen (wofür neoliberale Ökonomen, voran Milton Friedman, jahrelang gekämpft hatten). In zwei Schüben verlor der Dollar 50 Prozent seines Werts (auch wegen der rasch einsetzenden Devisenspekulation). Die OPEC-Länder reagierten mit einer drastischen Erhöhung der Rohölpreise (die „Ölpreisschocks“ von 1973 und 1979) und legten einen Großteil ihrer Überschüsse in der Londoner City an.
Diese Gelder absorbierten Entwicklungsländer in Form von Dollarkrediten, wobei sie zunächst von dem fallenden Dollarpreis zu profitierten. Die Wahl Reagans zum US-Präsidenten, die Hochzinspolitik der USA und die Spekulation auf einen wieder stärkeren Dollar führten ab 1980 zu einer drastischen Aufwertung der Weltwährung. Entsprechend verteuerten sich die zu viel günstigeren Bedingungen aufgenommen Dollarschulden. 1982 waren die großen Länder Lateinamerikas pleite.
Fazit: Jede Gruppe von Akteuren handelte aus ihrer Sicht rational: die Chicago-Ökonomen, die US-Regierung, die Ölexporteure, die Entwicklungsländer, die Devisenhändler, die US-Notenbank. Doch das Ergebnis war insgesamt ein äußerst „irrationales“: die Schuldenkrise Lateinamerikas und ihre katastrophalen Folgen. Wenn wir annehmen, dass das „verlorenen Jahrzehnt“ für nur ein Prozent der Bewohner Lateinamerikas einen früheren Tod bedeutete, so waren immerhin 3 Millionen Menschen betroffen. Ein unsichtbarer Tsunami, nur mit sehr viel mehr Opfern.
Hier sei eine persönliche Reminiszenz eingefügt. Als historisch geschulter Wirtschaftsforscher stellte ich mir damals die offenkundige Frage nach der „Rationalität“ der Finanzmärkte: Wenn das Profitstreben die wichtigsten Preise wie Wechselkurse, Rohstoffpreise, Zinssätze und Aktienkurse zwischen „Bullen- und Bärenmärkten“ hin- und herschwanken lässt, muss man dann nicht die berühmte „unsichtbare Hand“ – zumindest auf den Finanzmärkten – als die eines manisch-depressives Irren sehen?

Ob „Bulle“ oder „Bär“, entscheiden die Männer im Trading Room

Ich musste feststellen, dass in der „wissenschaftlichen Literatur“ keine Antworten auf die wichtigsten Fragen zu finden waren: Wie kommen diese Preistrends zustande? Über welche Mechanismen beeinträchtigen die Finanzmärkte unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft? Also begann ich mit eigener Feldforschung: Ich trieb mich auf Börsen und in Trading Rooms herum und lernte, wie Trader – fast immer Männer – agieren und in ihrem Zusammenwirken „Bullen“ und „Bären“ erzeugen.
Dabei machte ich folgende Beobachtungen:
• Markante Kursbewegungen werden von unerwarteten Nachrichten ausgelöst. Blitzartig müssen die Händler abschätzen, wie die anderen Händler auf die „news“ reagieren. Es werden also nur Richtungserwartungen gebildet: Geht’s rauf oder runter? Gleichgewichte kann es dann nicht geben.
• Die Kursbewegung löst Handelssignale bei computergesteuerten „trading systems“ aus: Steigt der Kurs, so produzieren die „trend-following models“ eine Serie von Kaufsignalen, zuerst die „schnellen“ Modelle, dann die langsameren.
• Die Exekution der Signale verstärkt und verlängert den Kursschub. Mit Verspätung springen auch Pensionsfonds und Amateur-Händler auf (sie sind als Gruppe regelmäßig die Verlierer des Spiels).
• Je länger der Preisschub dauert, desto schwächer wird sein „momentum“. Dies nutzen „contrarian models“, die auf ein „Kippen“ des Trends spekulieren. Damit wird, verstärkt durch entsprechende „news“, ein „Gegenschub“ ausgelöst.
• Ist die Stimmung „bullish“, so halten Aufwärtsschübe etwas länger an als die Gegenbewegungen. Das führt stufenweise zu einem langfristigen, den Fundamentalwert „überschießenden“ Preistrend, dem ein Abwärtstrend – nach gleichem Muster - folgt, wenn sich eine pessimistische Grundstimmung („Bärenmarkt“) durchsetzt.
Die langfristigen Preistrends auf Finanzmärkten ergeben sich somit aus der Akkumulation kurzfristiger Preisschübe: Die Abfolge mehrerer Trends auf Basis von Minutendaten bilden einen Trend auf Basis von Stundendaten, mehrere Stundentrends ergeben einen Trend auf Basis von Tagesdaten. Die Tagestrends akkumulieren sich wiederum zu „Bullen- und Bärenmärkten“, welche viele Monate oder sogar einige Jahre dauern.(1)
Dieser Befund ist von elementarer Bedeutung. Denn alle schweren Krisen der letzten 40 Jahre wurden durch „überschießende“ Trends von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen und Zinssätzen zumindest mit verursacht. Das gilt für die Ölpreisschocks der 1970er Jahre, die Schuldenkrisen in Lateinamerika 1982 und in Ostasien 1997 wie für Aktiencrashs von 2000 und 2008. Die Finanzkrise 2008 hatte deshalb so gravierende Folgen, weil drei Bärenmärkte zeitlich zusammenfielen: Immobilien-, Aktien- und Rohstoffvermögen wurden gleichzeitig entwertet - wie zuletzt beim großen Krach von 1929.
Während stabile Finanzmärkte in den 1950er- und 1960er-Jahren wesentlich zur wirtschaftlichen Prosperität beigetragen hatten haben seither die „manisch-depressiven“ Schwankungen der für unternehmerische Tätigkeiten wichtigsten Preise die Realwirtschaft massiv beeinträchtigt.
Auf Basis dieser Ergebnisse stellte das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) im Februar 2008 das Konzept einer generellen FTS vor: Der gesamte Handel mit Finanztiteln sollte mit einer Steuer zwischen 0,01 und 0,1 Prozent belastet werden.(2) Diese Steuer sollte die „schnellen“ Spekulationen auf Aktien-, Devisen, Rohstoff- und Anleihenmärkten eindämmen und damit die Schwankungen der für die Unternehmer wichtigsten Preise dämpfen.
Die erste Phase in der Auseinandersetzung um die FTS (2009 bis September 2011) sah die Befürworter in der Offensive. Seit gut 25 Jahren hatte eine wachsende Zahl von NGOs - insbesondere ATTAC - für die Einführung der Tobin-Steuer gekämpft. Da der Ausbruch der Finanzkrise ihrer Kritik an den Praktiken der Finanzakteure krachend Recht gab, forderten sie folgerichtig die Einführung einer generellen FTS.
Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und Großbritannien gab es in Deutschland bis 2009 keine starke Bewegung für die Einführung einer Transaktionssteuer. Das änderte sich mit der Finanz- und Eurokrise, in deren Verlauf die größte EU-Volkswirtschaft auch als politischer Faktor immer dominanter wurde. Deshalb war es für die europäische Offensive der FTS-Befürworter wichtig, dass der Jesuitenpater Jörg Alt im Herbst 2009 die deutsche Kampagne „Steuer-gegen-Armut“ gründete. Diese rasch wachsende Bewegung repräsentierte ein breites Spektrum von etwa 100 zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen.
Die Kampagne der NGOs für Einführung einer FTS war so erfolgreich, dass sich laut Eurobarometer bereits im November 2010 61 Prozent der EU-Bevölkerung für die Steuer aussprachen. Die politischen Eliten blieben davon nicht unbeeindruckt: Bundeskanzlerin Merkel änderte ihre Meinung 2010 zugunsten der FTS, Präsident Sarkozy schlug 2011 bei einem G20-Treffen die globale Einführung einer solchen Steuer vor, und auch das EU-Parlament votierte zwei Mal für das Projekt.
Zunächst hatte die Europäischen Kommission (EK) eine FTS abgelehnt (wie schon der IWF). Aber dann Doch im September 2011 änderte sie ihre Position fundamental: Zur Verblüffung der Öffentlichkeit schlug sie selbst eine solche Steuer für die gesamte EU vor. Nach ihrem Konzept sollte die FTS alle Finanzinstitutionen und alle Finanztitel erfassen, also „echte“ Aktien und Anleihen wie auch alle Derivate, egal ob sie auf Börsen oder „over the counter“ (bilateral) gehandelt werden.
Im Gegensatz zum WIFO-Konzept sah der Kommissionsentwurf keinen einheitlichen Steuersatz vor, sondern 0,1 Prozent für Aktien und Anleihen, sowie 0,01 Prozent für Derivate. Dies war ein Zugeständnis an die europäischen „Finanzalchemiebanken“ (wie Deutsche Bank, BNP Paribas, Credit Lyonnais, etc.), deren schnelles Trading sich auf Derivate konzentriert.
Um das Umgehen der Steuer zu erschweren, sollten alle Transaktionen einer Finanzinstitution, die ihren Sitz in einem FTS-Land hat, der Steuer unterliegen, also unabhängig davon, wo die Transaktionen getätigt werden („Residenzprinzip“).
In der zweite Phasen der FTS-Offensive (September 2011 bis Februar 2013) bemühten sich Politiker der Befürworter-Länder, eine Umsetzung der Steuer in der gesamten EU zu ermöglichen, allen voran der deutsche Finanzminister Schäuble. Doch sie scheiterten am Widerstand der Gegner, allen voran Großbritanniens, wie im April 2012 bei der ECOFIN-Tagung in Kopenhagen vollends klar wurde. Im Oktober beschlossen daher 11 EU-Länder (Belgien, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Portugal, Slowenien, Slowakei und Spanien), allein voranzugehen und die FTS im Rahmen der „verstärkten Zusammenarbeit“ einzuführen. Dieses Vorhaben wurde von der EK akzeptiert und vom EU-Parlament im Dezember 2012 mit großer Mehrheit unterstützt.
Im Februar 2013 legte die Kommission ein leicht modifiziertes FTS-Konzept für die 11 Länder vor, seine Umsetzung schien sicher. Doch es sollte anders kommen: Im Unterschied zur Vorlage des ersten FTS-Konzepts durch die EK konnte die Finanzlobby ihre Reaktion auf den Zweitentwurf planen und koordinieren. Sie bombardierte die Kommission und die Öffentlichkeit mit wilden Behauptungen über die verheerenden Wirkungen der Steuer. Die waren zwar weder neu noch empirisch fundiert, aber ihre schiere Zahl hatte die Wirkung eines Flächenbombardements.
Mit dieser „Generalmobilmachung“ verfolgte die Finanzlobby mehrere Ziele. Erstens wollte die die FTS-Koalition „der Willigen“ spalten, indem die Interessen der nationalen Finanzinstitutionen als nationale Interessen hingestellt wurden. Zweitens wollte sie die Finanzminister mit der Behauptung verunsichern, die FTS würde die Kosten der Staatsfinanzierung erhöhen. Und drittens wollte sie die (kleinen) Privatanleger mit der Drohung verstören, dass die FTS ihr in Finanzvermögen angelegte Ersparnisse dezimieren würde.
Diese präzise kalkulierte Strategie wurde perfekt umgesetzt: Von März bis Juni 2013 lief eine propagandistische Attacke von höchster Intensität, wobei die erste Angriffswelle von den großen Investmentbanken vorgetragen wurde. Die Topmanager von Goldman Sachs, Citigroup, Deutsche Bank oder BNP Paribas luden fast täglich zu Pressekonferenzen, in denen sie „wissenschaftliche“ Studien ihrer Forschungsabteilungen vorstellten. Die zweite Welle lief nach ähnlichem Muster ab, getragen von den Lobby-Organisationen der Finanzindustrie, wie der International Banking Federation oder dem European Repo Council. In der dritten, etwas diskreteren Phase, meldeten sich einzelne Notenbanken - und am Ende auch die EZB - zu Wort. So behauptete Sir Mervyn King, der Gouverneur der englischen Notenbank, er kenne unter seinen Zentralbanker-Kollegen niemanden, der die FTS „für eine gute Idee“ halte.(3) Und es fand sich kein Notenbanker in Europa, der ihm  widersprochen hätte.
Der genialste Zug dieser Generaloffensive bestand darin, eine neue Front zu eröffnen und die Angriffe auf diese zu konzentrieren. Gemeint ist das Instrument der Rückkaufvereinbarung („repurchasing agreement“), kurz Repo genannt. Mit einem Repo nimmt sich eine Bank von einer anderen Bank einen kurzfristigen Kredit – meist „overnight“ oder auch nur für ein paar Stunden – und verkauft Wertpapiere als Sicherstellung (in der Regel Staatsanleihen) mit der Verpflichtung, diese bei Rückzahlung des Kredits zurückzukaufen. Zwar handelt es sich bei Repos nur um die Absicherung eines Schnellkredits, doch da sie als Kauf und Rückkauf eines Wertpapiers konstruiert ist, wäre dafür zwei Mal die (höhere) FTS von 0,1 Prozent fällig. Damit würde der in Europa besonders große Repo-Markt zusammenbrechen.
Diese von allen „Kampfbrigaden“ ständig wiederholte Behauptung zielte darauf, die Repos aus dem FTS-Gesamtkonzept herauszusprengen, insbesondere auf Betreiben Frankreichs. Das Thema Repos wurde damit zum Prellbock, an dem der gesamte FTS-Umsetzungsprozess zum Stillstand kam.
Für diesen entscheidenden Durchbruch der FTS-Gegner gab es mehrere Gründe. Erstens: Da der Repo-Markt in der ganzen Debatte bis dahin keine Rolle gespielt hatte, konnten die Gegner den Eindruck erwecken, die Befürworter hätten diese Transaktionen übersehen. Tatsächlich hatte die EK explizit die Einbeziehung der Repos in die FTS befürwortet. Zweitens: Die für die FTS kämpfenden Politiker waren mit diesem größten Segment des europäischen „shadow banking“ wenig vertraut und ließen sich deshalb bluffen. Drittens: Da Repos zumeist mit Staatsanleihen besichert werden, konnte die Finanzlobby den Eindruck erwecken, eine FTS würde die Finanzierung der Staatsschuld verteuern. Viertens: Da auch viele Pensionsfonds mit Repos operieren, konnte man künftige Pensionäre mit der Ansage schrecken, die FTS werde ihre Altersbezüge merklich reduzieren.
All diese Behauptungen verschleiern die Tatsache, dass Repos eine zentrale Komponente jener „Finanzalchemie“ sind, die Systemrisiken produziert und ihre krisenverschärfende Wirkung noch in allerjüngster Zeit demonstriert hat. Diese toxische Wirkung beruht insbesondere auf vier Funktionen.
Zum ersten finanzieren Repos zumeist „schnelle“ spekulative Operationen, insbesondere den Eigenhandel der „Finanzalchemiebanken“.
Zum zweiten sind Repos bestens geeignet, Finanzinvestitionen extrem zu „hebeln“. Dieser „leverage effect“ funktioniert so: Man kann ein Wertpapier nahezu ohne Barmittel erwerben, indem man es gleichzeitig als Sicherheit für einen Repo verwendet, und sich auf diese Weise den Kredit für dessen Erwerb verschafft.
Zum dritten sind Repos das ideale Instrument für „Leerverkäufe“: Man akzeptiert ein Wertpapier, auf dessen Kursverfall man spekulieren möchte, als Repo-Sicherheit, um es sogleich wieder zu verkaufen.
Das führt zu der vierten Funktion: Dank der Möglichkeit, das als Sicherheit dienende Wertpapier weiterzuverkaufen, ergeben sich „repo chains“, die fatale Kettenreaktionen auslösen können, wenn ein Glied ausfällt. Ein Beispiel: Bank A verkauft per Repo-Vereinbarung das Wertpapier XY an Bank B (um einen schnellen Kredit zu bekommen), diese verkauft das Papier weiter an Bank C undsoweiter.

Die Forschungsabteilung von Goldman Sachs lieferte die Argumente

Wegen dieser enormen Risiken hat das „Financial Stability Board“ seit der Finanzkrise wiederholt gefordert, den in Europa besonders „wuchernden“ Repo-Markt umfassend zu regulieren. Passiert ist das Gegenteil: Die Finanzlobby hat es geschafft, die Unverzichtbarkeit eines „freien“ Repo-Markts zur Waffe gegen die FTS zu machen.
Ihre Spaltungsstrategie wurde dadurch erleichtert, dass Frankreich bereits 2012 und Italien 2013 ihre eigene Transaktionssteuer eingeführt haben, die eher wie eine Karikatur anmuten: Die französische FTT erfasst nur französische Aktien und lässt den schnellen „Intraday-Handel“ ebenso unbesteuert wie den gesamten Derivatehandel. Die italienische Steuer ist zwar umfassender angelegt, klammert den Handel mit Staatsanleihen jedoch aus. Vor allem das französische Vorgehen läuft auf eine Torpedierung der Initiative der „Elf“ hinaus, zumal Paris - zeitgleich mit dem Generalangriff der Finanzlobby – eine europäische Transaktionssteuer forderte, die sich an dem eigenen Schrumpfmodell einer Mini-Börsenumsatzsteuer orientieren sollte.
Die einflussreichste Studie gegen die FTS stammt von vier Ökonomen der Forschungsabteilung von Goldman Sachs (GS). Dieses Elaborat mit dem Titel: „Financial Transaction Tax: How Severe?” ist ein Extrembeispiel von Wissenschaft als Legitimationskunst. Das Erkenntnisinteresse dieser Studie liegt offen zutage: Die Kosten der FTS sollen möglichst groß gerechnet werden. Das erklärte die groteske Annahme, dass die FTS keinen Rückgang des Handels verursachen würde. Demgegenüber rechnet die EK für die meisten Transaktionen mit einem Rückgang um 85 Prozent.
Wie absurd diese GS-Hypothese ist, macht ein Blick auf Großbritanniens klar. Hier beträgt das Handelsvolumen das 563-Fache des BIP, eine FTS von 0,1 Prozent würde also Erträge in Höhe von 56,3 Prozent des britischen BIP erbringen. Nach der GS-Studie würde die FTS französische Banken am stärksten belasten. Aber auch bei den deutschen Instituten würde die Steuerbelastung ein Mehrfaches des Gewinns ausmachen, bei der Deutschen Bank zum Beispiel 362 Prozent. Mit anderen Worten: Die FTS würde die Deutsche Bank ruinieren.(5)
Um die Belastung möglichst hoch erscheinen zu lassen, erfand GS das Konstrukt eines „effektiven Jahressteuersatzes“. Dabei wird der Steuersatz mit der Häufigkeit der Transaktionen multipliziert. Wenn jemand etwa in Deutschland 1000 Mal im Jahr pro Einkauf 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlt, läge der „effektive Jahressteuersatz“ bei 19.000 Prozent.
Nach der GS-Studie würden auch alle, die für ihr Alter via Pensionsfonds vorsorgen, durch die FTS schwer gebeutelt: Wer etwa 35 Jahre lang jeweils 1000 Euro pro Jahr angespart hat, verliert angeblich 14 Prozent seines Kapitals. Auch diese Rechnung beruht auf so abstrusen Annahmen(6), dass man sich wundert, wie die Finanzlobby mit ihren „Argumenten“ durchkommen konnte. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass die meisten Journalisten und Politiker samt ihrer Zuarbeiter bei solchen Studien nur die Überschriften lesen, oder allenfalls noch die Zusammenfassung. Und wenn das Ganze noch von Goldman Sachs, der Deutschen Bank oder J. P. Morgan autorisiert ist – dann muss da ja was dran sein.
Wie gezeigt, sind Aufstieg und (Ver)Fall der Idee einer europäischen FTS eng verbunden mit dem Ausbruch der Finanzkrise. Sie verschaffte der Offensive der NGOs für eine FTS zunächst Rückenwind und sensibilisierte auch Teile der politischen Eliten. Doch die Wirkung des Schocks hielt nicht lange an. Als die Aktienbörsen wieder zu boomen begannen, wurden die Freud’schen Abwehrmechanismen – Verleugnung und Verdrängung – immer stärker.
Dies gilt insbesondere für Europa. Der dramatische Zinsanstieg in Südeuropa – angetrieben vor allem durch die Spekulation auf Staatsbankrotte – wird als „Strafe“ für Disziplinlosigkeit durch den „Richter Markt“ begriffen. Die fiskalische Sparpolitik und die Senkung von Löhnen wie Arbeitslosengeld treiben die Krisenländer in die Depression, während gleichzeitig die Börsen boomen. Die Finanztransaktionen sind im Zeitraum 2007 bis 2013 - trotz der Finanzkrise – vom 100-Fachen auf das 120-Fache des BIP angestiegen. In den USA dagegen sind die Transaktionen im selben Zeitraum vom 105-Fachen auf das 80-Fache des BIP zurückgegangen.
Wer aus der Geschichte nicht lernt, muss sie wiederholen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Aktienboom wieder in einen „Bärenmarkt“ kippt. Und mit den Aktien werden (Staats)Anleihen und Immobilien an Wert verlieren. Die simultane Entwertung der wichtigsten Vermögensarten wird Unternehmen und Haushalte veranlassen, ihre Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern einzuschränken. Und die neuerliche Verschärfung der Krise trifft ein Europa, das bereits 30 Millionen Arbeitslose, ein Millionenheer von prekär Beschäftigter und leere Staatskassen hat.
An einem Wechsel der Navigationskarte führt kein Weg vorbei. Bleibt zu hoffen, dass Europa nicht so lange wartet, bis rechtspopulistische Regierungen, die in einigen Ländern drohen, wieder abgewirtschaftet haben. Eine gesamteuropäische FTS müsste allerdings in einen „New Deal für Europa“ eingebettet sein, der dafür sorgt, dass unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft besser gestellt sind als die Spiele der Finanzalchemisten.

Anmerkungen
1) Entsprechend operieren Spekulationssysteme mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten respektive Daten.
2) Die damals viel diskutierte Tobin-Steuer hätte nur den Devisenhandel und damit lediglich 15 Prozent aller Finanztransaktionen erfasst.
3) Financial Times, 25. Mai 2013.
4) „Financial Transaction Tax: How Severe?“, zu finden unter: www.wiwo.de/downloads/8281810/1/GoldmanSachs.pdf
5) Besagte Hypothese wird allerdings aufgegeben, wenn es darum geht, die Belastung der Börsen durch die FTS „aufzublähen“. In diesem Fall stellt die GS-Studie ein Schrumpfen des Transaktionsvolumens in Rechnung, um behaupten zu können, dass die Börsen 22 Prozent ihres Gewinns einbüßen (die Deutsche Börse sogar 51 Prozent).
6) So werden in dem GS-Modell die Transaktionen des Pensionsfonds durch die FTS nicht gedämpft, die Rendite wird mit unrealistischen 6 Prozent pro Jahr angesetzt, und die FTS-Zahlungen werden nicht auf das (stark vermehrte) Endkapital, sondern auf die Einzahlungssumme von 35.000 Euro bezogen.

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher und Universitätslektor in Wien

Rate this Content 0 Votes

Die Geschichte der Finanztransaktionssteuer
 

Eine kleine Geschichte der Finanztransaktionssteuer, zusammengestellt von Attack - hier geht's zum Original ->

Prolog

Erste Überlegungen zu einer Finanztransaktionssteuer (FTS) für den Aktienmarkt gehen auf John Maynard Keynes zurück. Nach der Großen Depression der 30er Jahre schlug er vor, dadurch nicht kurzfristige und spekulative, sondern langfristige und nachhaltige Geschäfte und Investments zu fördern.

Die FTS wird häufig mit der 1972 von James Tobin vorgeschlagenen Tobinsteuer in Verbindung gebracht. Eine FTS auf Währungstausche (Devisengeschäfte) sei eine wirksame Möglichkeit die schädlichen Auswirkungen von Währungsspekulation auf ganze Volkswirtschaften einzudämmen und die Wechselkurse zu stabilisieren.

Die 90er Jahre: Asienkrise und Gründung von Attac

Die Finanzkrisen der 90er Jahre führten zum Wiederaufleben der Tobinsteuer-Diskussion und nicht zuletzt auch zur Gründung von Attac. 1997 riss eine gigantische Spekulationswelle Südostasien in die Krise. Der Chefredakteur der in acht Sprachen erscheinenden "Le Monde diplomatique", Ignacio Ramonet, publizierte einen Aufruf zur Kontrolle der Finanzmärkte. "Warum gründen wir nicht eine weltweite Organisation, die sich für die Einhebung einer Tobinsteuer zugunsten der Menschen einsetzt?" Aus dem französischen "Association pour une taxation des transactions financières pour l´aide aux citoyens" entstand das Kürzel Attac.

Mit darauf eintreffenden Flut von Zustimmung hatte Ramonet nicht gerechnet: Attac Frankreich wurde am 3. Juni 1998 gegründet. Seitdem folgten in über 50 Ländern weitere Attac-Organisationen. Attac Österreich startete am 6. November 2000.

2000 bis 2006: Tobinsteuer und die Mühen der Ebene

Kleine politische Erfolge prägten die ersten Jahre des neuen Jahrtausends. Im November 2001 sprach sich Frankreich als erstes europäisches Land verbindlich für eine Tobinsteuer aus, allerdings nur für den Fall, dass sich weitere europäische Länder anschließen würden. Belgien folgte mit einem ähnlichen Beschluss am 1. Juli 2004.

Bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2004 legte die nach dem brasilianischen Präsidenten benannte Lula-Gruppe (Brasilien, Frankreich, Spanien, Chile und später auch Deutschland und Algerien) einen Bericht vor, der die Forderung nach der Tobinsteuer enthielt.

Nicht zuletzt aufgrund der jahrelangen Überzeugungsarbeit von Attac schlossen sich auch in Österreich immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen der Forderung an. Die Arbeit mündete am 23. Mai 2006 in einem vier-Parteien Beschluss im österreichischen Parlament. Darin wurde eine entsprechende verpflichtende EU-Richtlinie gefordert – zunächst jedoch mit wenig realpolitischem Widerhall.

Finanzkrise: Neuer Auftrieb

Im Zuge der weltweiten Finanzkrise ab 2007 gewann die politische Debatte zur FTS deutlich an Fahrt. Sie verschob sich dabei immer mehr weg von der Tobinsteuer hin zu einer breit angelegten FTS, die alle Arten von Finanztransaktionen umfasst.

Unter Beteiligung von Attac wurden auf globaler Ebene neue und immer größere zivilgesellschaftliche Allianzen geschmiedet, die etwa in gemeinsamen weltweiten Aktionstagen den politischen Druck erhöhten – vor allem auf die G20. Die USA, Großbritannien und der IWF zählen jedoch zu den erbittertsten Gegnern der Steuer - auf Ebene der G20 herrscht (bis heute) Stillstand.

Auch innerhalb der EU wurde die FTS-Debatte jahrelang von Blockaden und Ausreden dominiert. Allen voran der Finanzplatz London, aber auch die EU-Kommission standen dabei fest auf der Bremse. Der wachsenden grundsätzlichen Befürwortung der FTS folgte auf europäischer und nationaler Ebene stets der Hinweis, eine Einführung mache nur auf globaler Ebene Sinn (bei entsprechender Ausgestaltung der Steuer ein Scheinargument). Bereits im Dezember 2009 (!) sprach sich der Europäische Rat der Regierungschefs für eine FTS aus – allerdings nur bei weltweiter Einführung.

Einen wichtigen Schritt und bemerkenswerten Wechsel vollzog die deutsche Bundesregierung im Mai 2010, als Finanzminister Schäuble schließlich auch die Einführung nur auf europäischer Ebene forderte. Doch auch diese Pläne scheiterten am Widerstand Londons.

Die EU-Kommission forcierte 2010 anstelle der FTS zunächst eine „Finanzaktivitätssteuer“, welche nur die Gewinne und Gehaltszahlungen von Banken erfasst, aber keine Transaktionen – aus Attac-Sicht ein unbefriedigender und unzureichender Vorschlag.

Europäisches Wendejahr 2011

Die erste europäische Institution, welche die Besteuerung von Finanztransaktionen in einem ersten Schritt auch nur auf EU-Ebene forderte, war das EU-Parlament (Beschluss: 8. März 2011, Vorarbeit 2010).

Im Sommer 2011 begann auch in der EU-Kommission ein Umdenkprozess. Am 28. September 2011 schließlich stellte Kommissionspräsident José Manuel Barroso einen Gesetzentwurf zur Einführung einer FTS in der EU vor – angesichts der jahrelangen Blockade der Kommission ein wahrer Durchbruch. Der Steuersatz soll dabei 0,1 Prozent auf den Handel von Aktien und Anleihen und 0,01 Prozent für Derivate von Aktien und Anleihen betragen. Devisengeschäfte am Spotmarkt sowie andere Derivate sollen von der Steuer befreit sein - für Attac ein Wermutstropfen. Die Debatte erhielt aber dadurch auch auf Ebene der EU-Regierungschefs weiteren Auftrieb. Die Allianz der Gegner begann immer mehr zu bröckeln.

2012 – der Durchbruch in Sparvariante

Im Jänner 2012 beschloss Frankreich die Einführung einer Schmalspur-FTS auf nationaler Ebene (umgesetzt im Sommer 2012). Im Frühjahr 2012 starteten neun EU-Länder einen neuen Vorstoß eine FTS auf EU-Ebene einzuführen, scheiterten aber vor allem am Widerstand der beiden Nicht-Euro-Länder Großbritannien und Schweden. Die Alternative, die Steuer nur in der Eurozone einzuführen scheiterte wiederum am Widerstand von Luxemburg und den Niederlanden und wurde im Juni 2012 aufgegeben.

Die verbleibenden EU-Länder einigten sich jedoch darauf die FTS nur in den befürwortenden Ländern einzuführen: Am EU-Finanzministerrat in Luxemburg am 9. Oktober erfolgte die historische Einigung. Insgesamt elf EU-Länder (nämlich: Belgien, Deutschland, [Estland, mittlerweile ausgeschert], Frankreich, Griechenland, Italien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Österreich und Portugal) schlossen sich zusammen, um die Transaktionssteuer einzuführen. Bis Ende Oktober hatten zehn EU-Länder einen entsprechenden Antrag bei der EU-Kommission eingereicht.

2013 bis 2017 – FTS lässt auf sich warten

Am 22. Jänner 2013 gaben die EU-FinanzministerInnen den Auftrag, die Details dieser FTS auszuarbeiten werden. Eine Einführung wurde bereits mit Jänner 2014 ins Auge gefasst. Seither hat sich der Prozess immer wieder verzögert und die Einführung musste mehrmals verschoben werden.

2015 übernahmen Österreich und Portugal die Koordination der Verhandlungen. Im Dezember 2015 gab es eine Einigung auf Eckpunkte, abseits dieser ist aber nach wie vor vieles offen. So sind sich die Länder beispielsweise nicht einig, welche Derivate von der FTS ausgenommen werden sollen. Ebenfalls fordern einzelne Länder Ausnahmen für Pensionsfonds und für sogenannte „market makers“. 

Zuletzt war für Juni und Dezember 2016 eine endgültige Einigung angekündigt, und wieder gibt es keine substanziellen Fortschritte. Finanzminister Hans Jörg Schelling präsentierte statt wirklicher Fortschritte nur die x-te angebliche Einigung ohne wirklicher Substanz. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob die Finanzminister es mit der Regulierung des Finanzsektors ernst meinen – oder ob die Interessen der Finanzindustrie wichtiger sind. 

 

Attac wird die Verhandlungen und die konkrete politische Umsetzung weiterhin kritisch beobachten. Wir fordern vor allem die flächendeckende Anwendung eines einheitlichen Steuersatzes (etwa von 0,1 Prozent) ohne Ausnahmen bei der Steuerbasis. Weiters sollte die FTS nach dem Sitzlandprinzip erhoben werden. Damit wären Fluchtmöglichkeiten von der Steuer sehr erschwert: Es bliebe nur die Verlagerung des kompletten Firmensitzes, die oft teurer wäre als die Steuer. Zudem sollten nicht nur Börsengeschäfte, sondern auch außerbörsliche Transaktionen erfasst werden. Insbesondere die Besteuerung von Derivaten ist wichtig. Die Einnahmen sollen in erster Linie für internationale Armutsbekämpfung und Umweltschutz verwendet werden.

Die Finanzlobbys kämpfen nach wie vor gegen die Steuer und versuchen sie noch zu verhindern oder aufzuweichen. Es bleibt also noch viel zu tun! Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen auf der ganzen Welt setzt sich Attac dafür ein, dass die Finanztransaktionssteuer in der EU und auf globaler Ebene Realität wird.
Die FTS ist ein notwendiges – aber bei weitem nicht ausreichendes – Mittel um Finanzmärkte effektiv zu regulieren. Notwendig sind eine Zerteilung der systemrelevanten Banken, ein effektives Schließen von Steueroasen sowie eine Zulassungspflicht für alle Finanzprodukte (insbesondere Derivate).

Rate this Content 0 Votes